Dabei ist Dautremer mitnichten „nur“ Kinderbuchillustratorin. Ihre abgründigen Bilderwelten faszinieren altersunabhängig. Ihr gelingt, was Lewis Caroll erzählerisch mit „Alice im Wunderland“ schaffte: ein Nebeneinander von Staunen, Wundern, Schrecken. Zart, skurril, mysteriös.
Das passt auch zu Steinbecks Anti-Aufsteigerroman „Von Mäusen und Menschen“. Kurz nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise erschienen, erzählt er die unendlich traurige Geschichte der Wanderarbeiter Lennie und George, die an der Ungerechtigkeit der Welt zerbrechen. „Kerle wie wir“, sagt George irgendwann einmal, „haben keine Familie. Sie legen ’n bisschen was auf die hohe Kante und dann geben sie’s wieder aus. Sie haben niemand auf der Welt, der sich auch nur einen Deut um sie kümmert.“
Anders als in vielen anderen Literaturadaptionen in Graphic Novels hat sich Dautremer den gesamten Text vorgenommen: Ein Ziegelstein von einem Buch ist es geworden, 420 Seiten dick. Wobei Dautremer ein beachtliches Instrumentarium an grafischen Techniken und Stilen ausbreitet. Die Anmutung ist mal Skizzenbuch-ähnlich, dann wieder gemäldeartiges, großes Kino. Hier die weichgezeichneten, knopfäugigen Haserln in Kreide, dort die verzweifelten, hageren Männergesichter in Aquarell. Dazwischen filigrane, fotografisch präzise gestrichelte Insekten, blasse, braunstichige Schwarz-weiß-Landschaften oder grelle, Werbeplakat- -ähnliche, raumgreifende Bilder in satten Primärfarben.
Rébecca Dautremers Bilder sind mehr als Illustrationen des Textes. Sie sind gleichsam eine zweite, parallel zu Steinbecks Novelle erzählte Geschichte. Auf den ersten Blick vermeint man, es in diesem Buch mit einer ganzen Künstlergruppe zu tun zu haben. Dautremer, die an der berühmten Pariser Universität für angewandte Kunst („Arts Déco“, Absolventen waren u. a. Künstler wie Francis Picabia oder Fernand Léger) studiert hat, zitiert die halbe Kunstgeschichte: Etwa den US-Maler Grant Wood („American Gothic“), den US-Fotografen Walker Evans, die Art Brut-Bewegung oder US-Werbeästhetik der 1930er-Jahre.
Das Ganze sei eine „theatralische Inszenierung“ sagte Dautremer in einem Interview mit Radio-France. Die ganz große Show liegt der Künstlerin, die in den Bergen aufwuchs: Beim Arbeiten hört sie am liebsten Gewitter.