Über den ständigen Dialog mit dem inneren Kind
Es soll noch immer Menschen geben, die Comics nicht für Literatur halten. Gegenargumente gibt es genügend. Alison Bechdels Graphic-Novel-Autobiografie "Fun Home" (deutsch: "Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten") wurde 2007 vom Time Magazin zum "besten Buch des Jahres" gekürt – und zwar nicht nur bei den Comics, sondern im Bereich Belletristik allgemein. Und in der Kategorie Graphic Novel stand Bechdel damit 40 Wochen lang in der New York Times-Bestseller-Liste.
Kritiker bezeichneten sie als " Virginia Woolf des Comics". Und tatsächlich sind die britische Autorin und ihr Essay "A Room of One’s Own" ("Ein Zimmer für sich allein", 1929) eine wichtige Referenz für Bechdel. Auch John Updike wurde als Vergleich herangezogen: Bechdels Beobachtungsgabe, ihre sprachliche wie zeichnerische Brillanz und die Schilderungen des amerikanischen Alltagslebens machen diesen Vergleich plausibel. Allerdings gibt’s bei Bechdel nicht ganz so viel Sex wie bei Updike.
Familie, Psychoanalyse und ihre sexuelle Orientierung sind die Hauptthemen der 54-jährigen lesbischen Amerikanerin. Stand in "Fun Home" das Lebens ihres Vaters und dessen Selbstmord im Vordergrund, geht es in "Wer ist hier die Mutter" nun um das komplizierte Mutter-Tochter-Verhältnis im Hause Bechdel. "Ich kann dieses Buch nicht schreiben, wenn ich meine Mutter nicht aus dem Kopf kriege", erzählt Alison ihrer Therapeutin. "Aber ich kriege sie nur aus dem Kopf, wenn ich dieses Buch schreibe."
Warum man das lesen soll? Weil es ziemlich lustig ist. Darüber hinaus klug und herzergreifend.
Interessante Phobie
Alison macht sich früh Gedanken über ihre Familie und analysiert sich selbst und ihre Träume. Damit tritt sie in Konkurrenz zu ihren Therapeuten, wie sie selbst treffend erkennt. Sie zitiert Freud, C.G. Jung und Virginia Woolf und sagt Sätze wie "Hey, ich habe gerade etwas Interessantes über Phobien gelesen". Oder sie denkt darüber nach, wann ihre Mutter beschlossen hat, Alison sei nun zu alt für den Gute-Nacht-Kuss.
Dabei ist es gerade diese Mutter, die man als Leser sehr ins Herz schließt. Eine Lehrerin, die lieber Universitätsprofessorin geworden wäre, das weiterführende Studium aber ihren drei Kindern geopfert hat. Sie ist eine kluge Kritikerin, die ihrer Tochter die Texte, in denen diese Familiengeheimnisse ausplaudert, säuberlich korrigiert und Anmerkungen wie diese dazu macht: "Vorsicht bei der Verwendung von Adverben."
Indiskret ist Bechdel nie. Schlimmes, das dieser Familie passiert sein könnte, wird angedeutet. Etwa zeichnet sie eine Einkerbung in den Küchenfußboden und versieht sie mit einem Pfeil: "Delle von einem Teller, den Dad geworfen hat."
Das Leben der anderen
Und trotz des ständigen Nachdenkens über ihren Zustand hat Bechdel ausgesprochen viel Selbstironie. Etwa, wenn sie ihrer Mutter in den Mund legt, dass diese starke Ich-Bezogenheit in der Literatur hasse. Tenor: Wen interessiert das schon!
Bechdel ist sich bewusst, dass sie "Szenen aus dem Leben" anderer Leute stiehlt – sie bedankt sich dafür im Nachwort. Allerdings machen das die meisten Künstler. Im Gegensatz zu ihnen aber thematisiert Bechdel auch das Darüber-Nachdenken. Ein wenig erinnert das an Spike Jonzes’ Film "Being John Malkovich". Als würde sie selbst in ihr eigenes Bewusstsein klettern. Brillant!
KURIER-Wertung:
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