Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz gestorben

Imre Kertesz im Jahr 2002.
Der ungarische Schriftsteller wurde mit seinen Romanen über den Naziterror berühmt.

Der ungarische Schriftsteller Imre Kertesz ist nach langer Krankheit am Donnerstag im Alter von 86 Jahren verstorben. Das teilte sein Verlag laut der ungarischen Nachrichtenagentur MTI mit. Sein Hauptwerk ist der "Roman eines Schicksalslosen" (dt. 1996), in dem er seine Erfahrungen im KZ Buchenwald verarbeitet hat. Der 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete ungarische Schriftsteller behandelte in seinen Werken das Überleben in totalitären Systemen und um das Phänomen der Verdrängung in der Nach-Wende-Gesellschaft. Seit mehreren Jahren litt Kertesz an der Parkinson-Krankheit.

Kertész, der am 9. November 1929 geboren wurde, wuchs in einer Budapester jüdischen Familie auf. 1944 wurde er nach Auschwitz und Buchenwald deportiert und bei Kriegsende aus dem KZ befreit. In den Jahrzehnten, die folgten, schlug er sich als Redakteur, Autor von Unterhaltungsstücken fürs Theater und Übersetzer der Werke von Nietzsche und Wittgenstein durch. Doch die Erfahrungen der Schoah ließen ihn nicht mehr los. Von 1960 bis 1973 arbeitete er unentwegt und besessen an seinem Hauptwerk, dem "Roman eines Schicksallosen".

Die existenziellen Erfahrungen des Überlebenden ließ er in eine Prosa einfließen, die nicht auf Betroffenheit abzielt, sondern die unterschiedlichen Traumatisierungen seiner Erzählfiguren sichtbar macht. "Auch wenn ich von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir", notierte Imre Kertész in seinem "Galeerentagebuch".

Ihre Verschleppung in die Vernichtungslager hatte Hitler-Deutschland angeordnet, vollstreckt wurde sie von den willfährigen ungarischen Behörden. Im nachfolgenden Kommunismus war wiederum eine offene Vergangenheitsdiskussion nicht möglich. So kam es, dass Kertesz erst 1996, als der "Roman eines Schicksallosen" in einer autorisierten deutschen Übersetzung erschien, auf internationale Beachtung stieß - und damit für Furore sorgte. 2001 luden ihn die Salzburger Festspiele für die Reihe "Dichter zu Gast" ein, 2003 wurde sein Hauptwerk zum Gratis-Buch der Wiener Aktion "Eine Stadt ein Buch". 2012 erhielt er den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch für sein Gesamtwerk.

Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz gestorben
epa01005513 Hungarian writer and Nobel Literature Prize winner Imre Kertesz reads from his book 'Dossier K.' during the opening of the Book Basel fair in Basel, Switzerland, 10 May 2007. EPA/GEORGIOS KEFALAS
Die Romane "Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind" (deutsch 1992), "Fiasko" (deutsch 1999) und "Liquidation" (deutsch 2003), das die österreichische Regisseurin Stephanie Mohr 2014 am Schauspiel Frankfurt dramatisierte, verknüpfen sich mit dem "Roman" zur "Tetralogie der Schicksallosigkeit". Obgleich Kertesz' erzählerische Prosa sich immer wieder von Auschwitz herschreibt und fortschreibt, ist das Ergebnis alles andere als monotone Betroffenheitsliteratur. Im "Galeerentagebuch" (deutsch 1993), den Aufzeichnungen aus den Jahren 1961 bis 1991, spürt der Autor den Fragen nach Determiniertheit und Freiheit des Individuums unter der kommunistischen Herrschaft nach.

Schwieriges Verhältnis

In seinen Essays setzte sich Kertesz streitbar für ein Europa ein, das seine totalitären Katastrophen - Nazismus und Kommunismus - überwunden hat, aber seine eigenen Werte "deutlicher erklären" müsste. Das Verhältnis zu seiner Heimat Ungarn gestaltete sich aber auch nach der Wende schwierig. Der erstarkende Nationalismus und Antisemitismus erfüllten ihn mit Sorge. Die Aufarbeitung des Holocaust blieb aus, Verdrängung wurde vor allem unter den rechten Regierungen zur Staatsraison. Als Kertesz als erster Ungar überhaupt den Literaturnobelpreis erhielt, äußerten sich Berichte im staatlichen Rundfunk abschätzig. Für viele Rechte war Kertesz wegen seiner Kritik an den ungarischen Zuständen ein "Nestbeschmutzer".

Das Preisgeld des Nobelpreises ermöglichte es ihm, dem Kenner und Liebhaber der deutschen Kultur, sich in Berlin niederzulassen. Zugleich machten ihm die Etikettierungen, die mit dem hohen Preis notgedrungen einhergingen, zu schaffen. Diese "Glückskatastrophe" hätte aus ihm einen "Holocaust-Clown" gemacht, haderte er im Tagebuch-Band "Letzte Einkehr" (2013). "Ich wurde eine Aktiengesellschaft, eine Marke. Die Marke Kertesz", schob er im "Zeit"-Interview mit Iris Radisch nach.

Schon seit vielen Jahren litt Kertesz an der Parkinson-Krankheit, die ihm Leben und Arbeiten zunehmend erschwerte. Ende 2012 zog er nach zehn Jahren von Berlin wieder nach Budapest zurück, weil er sich - wie er es in Ungarn darstellte - die hohen Behandlungskosten in Deutschland nicht mehr leisten konnte. Kertesz schien zuletzt seinen kleinen, privaten Frieden mit seinem Herkunftsland geschlossen zu haben.

Debatte um nationale Ehrung

2014 nahm er den sogenannten Stephansorden an, eine Ehrung aus der Zeit des rechts-autoritären Herrschers Miklos Horthy, unter dem Kertesz und die anderen ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert wurden, und der von Viktor Orban erst vor wenigen Jahren als höchste staatliche Auszeichnung reaktiviert wurde.

Viele Kertesz-Fans in Ungarn waren bestürzt, dass sich der intellektuell unbestechliche Schriftsteller zur Legitimierung des aus ihrer Sicht undemokratischen, Holocaust-verharmlosenden Orban-Kurses hergab. Andere verteidigten ihn damit, dass der Verfechter kompromissloser persönlicher Autonomie auch in dieser Frage kompromisslos autonom gehandelt habe. Kertesz' eigene Begründung für die Annahme des Preises klang eher beleidigt. "Ich bin ungarischer Staatsbürger, und der ungarische Staatspräsident hat ihn mir angeboten", sagte er im Interview mit dem oppositionellen ungarischen Star-Moderator Sandor Friderikusz. "Viele wollten es mir ausreden, als wäre es quasi ein Verbrechen gewesen. Mögen sie zum Teufel gehen, so ein Unsinn!"

Kommentare