Autorin Dangarembga bei "Literatur im Nebel": "Mangel an Migrationsmöglichkeiten"

Es ist ein Thema, das sich derzeit durch viele der heftigst geführten Debatten zieht: Welche Auswirkungen nämlich die historischen europäischen Beutezüge in alle Welt und der Kolonialismus bis heute haben. Im Kulturkontext zeigten zuletzt die Documenta oder derzeit auch die am Freitagabend eröffneten Wiener Festwochen, wie rasch es angespannt wird, wenn diese Historie thematisiert oder aufgearbeitet wird: Hier prallen Sichtweisen aufeinander, hier werden geschichtliche Festlegungen brüchig.
Denn, betont die Autorin, Filmemacherin, Aktivistin und Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga gegenüber dem KURIER: „Wir alle leben in den Nachwirkungen dieser Ära, auch wenn wir sie in unterschiedlichen Aspekten erlebt haben.“
Etwa in Simbabwe, wo Dangarembga 1959 geboren wurde (damals noch die britische Kronkolonie Südrhodesien) und wo man bis heute die Schatten des Kolonialismus spürt. Dort setzt sich Dangarembga, 2020 für den Internationalen Booker-Preis nominiert sowie in die 100-Women-Liste der BBC aufgenommen, in Büchern und Filmen seit Jahrzehnten gegen Diskriminierung, Verfolgung und Korruption und für Menschenrechte ein.
Ehrengast
Die Autorin, Filmemacherin und Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga steht heuer im Zentrum von „Literatur im Nebel“ (11. und 12. Oktober in der Margithalle in Heidenreichstein). Sie zählt zu den wichtigsten Stimmen Afrikas für Frieden, Demokratie und Frauenrechte. Und sie kämpft seit mehr als drei Jahrzehnten für Frieden, Freiheit, Demokratie und Frauenrechte in Simbabwe. Anfang der 1990er-Jahre hatte sie in Berlin Filmregie studiert, kehrte dann aber mit ihrem Mann nach Harare zurück. 2021 erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels
Werke
Als Schriftstellerin ist Tsitsi Dangarembga mit ihrer Tambudzai-Roman-Trilogie weltweit bekannt geworden: „Nervous Conditions“ (1988, auf Deutsch „Aufbrechen“), „The Book of Not“ (2006, „Verleugnen“) und „This Mournable Body“ (2018, „Überleben“). Dangarembga schrieb das Drehbuch für „Neria“, den bis heute einspielstärksten Film Simbabwes
Tickets
Für „Literatur im Nebel“ gibt es ab Donnerstag, Info: literaturimnebel.at
Aufbrechen
Dutzende Male musste sie in den vergangenen Jahren vor Gericht erscheinen, da sie nach einem friedlichen Protest 2022 zu sechs Monaten Haft verurteilt und erst in zweiter Instanz freigesprochen wurde.
Vor mehr als drei Jahrzehnten erschien ihr gefeierter erster Erfolgsroman „Nervous Conditions“ (auf Deutsch: „Aufbrechen“), in dem es um die doppelte Unterdrückung einer jungen Frau geht, durch die patriarchale Struktur im Land und die Weißen. Das Buch wurde 2018 von der BBC in die Liste der 100 wichtigsten Bücher aufgenommen, die die Welt geprägt haben.
Hätte sie damals beim Schreiben ein freieres Simbabwe in den 2020ern erhofft? „Ich hatte gehofft, dass wir eine freundlichere, egalitärere Gesellschaft aufbauen würden, in der wir uns alle in unserer Menschlichkeit und vor dem Gesetz als gleich ansehen. Dies ist nicht der Fall gewesen“, sagt sie. Das sei für sie eine „große Enttäuschung“. Und: „Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird das Leid noch schlimmer sein als in der Kolonialzeit.“

Trotzdem ist Dangarembga insgesamt für Afrika optimistisch: „Ich glaube, dass bürgerliche Freiheiten im Entstehen begriffen sind“, betont sie. Vorbild sei hier nicht der globale Norden, sondern: „Alle Menschen sehnen sich nach Freiheit.“ Auch sei der Norden „kein Ziel der Freiheit für das afrikanische Volk“. Denn die dorthin emigrierten Menschen erleben „starke Diskriminierung“, wenn es auch „ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit“ gebe, „sich anders mit dem auseinanderzusetzen, was als Unterschied wahrgenommen wird“.
Unterschiedliche Wahrnehmungen gibt es auch zur Migration. Die werde, sagt Dangarembga, im globalen Norden als Problem gesehen – was ironisch sei, „denn es ist die Politik des globalen Nordens im letzten Jahrtausend – seit den sogenannten Entdeckungsreisen, bei denen es sich in Wirklichkeit um Reisen zur Aneignung des Reichtums anderer Menschen handelte –, die die Situation hervorrief, die jetzt für den globalen Norden so beunruhigend ist.“
In Afrika werde hingegen nicht die Migration, sondern der „Mangel an Migrationsmöglichkeiten“ als Problem angesehen, sagt sie. Würden Dauerthemen wie Gleichberechtigung und Inklusion international umgesetzt, ließe sich „die Zahl der Menschen reduzieren, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen müssen, die überwiegende Mehrheit derjenigen Menschen, die laut Aussage des globalen Nordens das Flüchtlingsproblem darstellen“, sagt sie.
Wie soll man nun aber dieser Kolonialgeschichte begegnen? Schuldgefühle zu hegen, sagt Dangarembga, bringt hier nichts – im Gegenteil: Wer sich schuldig fühlt, überträgt dieses negative Gefühl oftmals auf jene, die das Schuldgefühl hervorrufen. Man könne auch keinen einfachen Übergang erwarten, „wenn Milliarden von Menschen unter den Folgen der Gewalt und Ressourcenaneignung leben, die der globale Norden 500 Jahre lang gegen den Rest der Welt verübt hat“.
Nötig sei „ein Eingeständnis von Unrecht, auch im historischen Maßstab, und der aufrichtige Wunsch, das Unrecht in der Gegenwart wiedergutzumachen, dem entsprechende Maßnahmen folgen. Nur so können wir aus dem Schattenspiel von Schuldgefühlen und gegenseitigem Misstrauen herauskommen.“

Kritisches Denken
Kann die Literatur, die Kunst hier was ausrichten? Vor allem erzählerische Kunstformen können „eine Fähigkeit vermitteln, die in afrikanischen Ländern oft vernachlässigt wird“, sagt Dangarembga.
Die kolonialen Systeme haben in der Bildung auf Auswendiglernen gesetzt, da „Untertanen benötigt wurden, die nicht selbst dachten, sondern Anweisungen behalten und ausführen konnten“. Jedoch könne „ohne kritisches Denken kein Problem gelöst werden. Dass Kunst dies auf eine Weise lehren kann, die für die breite Bevölkerung zugänglich ist, ist der Grund, warum die Freiheit der Kunst in vielen totalitären Staaten, darunter auch in Afrika, aktiv unterbunden wird.“
Ist die Freiheit der Kunst bei ihr mit dem Aktivismus verbunden? Nein, sagt sie. „Mit der Literatur lebe ich in der symbolischen Welt der Vorstellungskraft, die eine freiere Welt zum Leben ist. Wenn ich das Bedürfnis verspüre, in der materiellen Welt zu agieren, was ich auch tue, dann mache ich Filme. Zumindest versuche ich, Filme zu machen, und ich lebe in der Hoffnung, sie zu machen.“