Das ausgezeichnete „Blutbuch“ hatte zwar kaum jemand gelesen, eine Meinung über De l’Horizon (nicht-binär, geschminkt, mit Bart und Kleid und, nach einer Solidaritätsaktion mit den iranischen Frauen, haarlos) sowie den Preis (ideologisch vergeben!) hatte aber jeder sofort zur Hand. Natürlich gab es Hassnachrichten an eine Figur, die wie die Verkörperung der aufgeregten Transsexuellendebatte aufgestanden ist.
Dass die paar „Blutbuch“-Rezensionen, die danach in wichtigen Medien erschienen sind, sonderbar kontextlos auf die Debattenbremse gestiegen sind und das Buch als Buch einhellig lobten – wen soll denn das interessieren? Die Debatte war in jener holzschnittartigen Form, zu der die Online-Öffentlichkeit sich aufzuraffen bereit ist, bereits durchgemacht. Und überhaupt: Wer liest denn so was?
Als welch’ stumpfe, langsame Waffe (man braucht Stunden, um das Buch zu lesen!) gegen diese sekundenschnelle Aufregung steht die Literatur da; und zugleich: wie viel lohnender ist es, den diskutierten Text nachzulesen als den Shitstorm. Denn das „Blutbuch“ ist in vielerlei Hinsicht das Buch der Stunde; nicht, weil es sich so übermäßig im Woken („man“ ist hier immer „mensch“) oder an vorderster Front der Genderdebatte oder der modernen Zeiten überhaupt bewegt, im Gegenteil. Wer über die Passagen mit dem huch-behafteten Sex hinwegkommt (schlechte Sätze über Sex zu schreiben ist übrigens offenbar kein Monopol der heteronormativen Autoren), liest hier etwas ganz anderes als das, was die besorgten Bürger ins Internet rotzen.
Nämlich eine so schroffe wie zärtliche Auseinandersetzung mit Familie, mit der Weitergabe von Traumata, mit dem Ringen nach Selbstbehauptung der jeweils nächsten gegenüber der jeweils vorhergehenden Generation. Man liest also über etwas, das eh jeder selbst erlebt, egal, wie er’s oder sie’s mit dem Gender hält. Das Buch ist im Gesamten eine Einkleidung des kleinen Außergewöhnlichen in das große Gewöhnliche – ein Zurechtrücken der Verhältnisse, heraus der Veränderungspanik, in die sich die mutlos gewordene Gesellschaft hineingestürzt hat.
Buch-Kim (stark verwechslungsgefährdet mit Autoren-Kim) taucht aus Anlass der Demenzerkrankung der Großmutter (im französisch geprägten Schweizer Deutsch die „Großmeer“) in die Geschichte der Familie, in die eigenen Verhältnisse zu Großmeer, Mutter (Meer) und zu sich ein. Kim ist nicht eindeutig Geschlechter-zugeordnet und stellt sich in eine Linie mit den Frauen der Familie.
Als Gegenmodell zu all den Märchen vom Heldenmann, die die Literatur widerspruchslos bevölkern dürfen, zeichnet De l’Horizon eine Frauengeschichte über viele Generationen, die, wie immer, wenn es um Familie geht, natürlich fiktional ist.
Das alles wirbelt im Strudel der Selbstreflexion herum, in den sich heutige Literatur gerne stürzt: Die Autorenfigur wechselt zwischen Tonalitäten und Erzählpositionen wie Spotify durch die Musikstile, wenn die App auf Zufallswiedergabe geschaltet ist. Übrig bleibt eine wichtige Erkenntnis, die so nur durch die Literatur vermittelt werden kann: Wer mit dem anderen mitdenkt und mitfühlt, verliert jede Angst vor jenen sekundären Unterschieden, die die öffentlichen Debatten gekapert haben.
Kommentare