Landestheater in St. Pölten: „Wir spielen – solange es geht“
Das Landestheater in St. Pölten ist geradezu vorbildlich: Die Abstandsregel von einem Meter rund um jeden Sitzplatz wird strikt eingehalten. Von den 367 Plätzen stehen daher nur 174 zur Verfügung. Zudem gibt es keine Pausen und kein Catering. Ob trotzdem weiter gespielt werden darf? Marie Rötzer, Leiterin seit 2016, erklärt im Interview, was sie machen würde, wenn sie könnte.
KURIER: Die nächste Premiere soll Ende November Schillers „Kabale und Liebe“ sein. Weil dieses Stück auch zur Eröffnung des Theaters in St. Pölten gespielt wurde?
Marie Rötzer: Es wurde im ersten Jahr gespielt. Was zur Eröffnung stattfand, konnten wir nicht herausfinden. Wir wissen nur, dass sie am 26. Dezember 1820 war.
Das 200-Jahr-Jubiläum feiern Sie aber nicht zu Weihnachten, sondern erst 2021.
Wir wollten mit unseren Aktivitäten bereits zu Beginn dieser Spielzeit starten – etwa mit einem großen Kinder- und Familienfest. Und im Jänner sollte es eine Gala geben. Aber all das geht eben nicht. Wir haben die Veranstaltungen daher verschoben – und sind davon abhängig, wie sich die Situation entwickelt. Vielleicht müssen wir bis zum Sommer warten.
Das Besondere ist, dass dieses Theater nicht zu Zwecken der Repräsentation gegründet wurde.
Richtig. Die Bürgerinnen und Bürger hatten das Bedürfnis, ein ständiges Theater zu etablieren. Sie gründeten zusammen mit der Kirche und dem hohen Beamtenstand eine Aktiengesellschaft und bauten dieses Haus, das davor ein Garnisonsgefängnis war, um. Es gab also ein kulturelles Selbstverständnis des Bürgertums. Der Zulauf war derart groß, dass man überlegt hat, unweit von hier ein größeres Theater zu bauen. Die Pläne waren weit gediehen, aber dann doch zu hochfliegend.
Und wann haben sich die Bürger verabschiedet?
Das Haus wurde anfangs von Wandertruppen bespielt. Man installierte dann einen Intendanten, der für eine gewisse Zeit mit seinem Ensemble geblieben ist. Und da sind die Kosten explodiert. Instandhaltung und Bewirtschaftung konnten nicht mehr mit den Einnahmen finanziert werden. Ein Jahr nach dem Revolutionsjahr 1848 hat die Stadt das Haus übernommen. Es ist also nicht lange gut gegangen.
Auch der Stadt wuchsen die Ausgaben über den Kopf.
Das Stadttheater war bis 2005 ein Mehrspartenhaus – es gab Oper, Operette, Musical, Sprech-, Kinder- und Jugendtheater. Aufgrund eines politischen Deals, Kosten und Aufgaben zu verteilen, kam es dann zum Land und wurde als reines Sprechtheater positioniert – mit internationalen Gastspielen und Koproduktionen. Ich habe hier 1992/93 als Dramaturgin gearbeitet und finde die Entwicklung fantastisch. Denn es hat nun ein hohes Niveau. Die Entscheidung, dass es zur NÖKU, der Niederösterreich Kulturwirtschaft, kam, war absolut richtig. Das Gebäude gehört aber nach wie vor der Stadt. Sie ist also doch irgendwie mitverantwortlich und will sich auch wieder mehr einbringen.
In dieser Saison beschäftigt sich das Bürgertheater-Projekt mit der Geschichte des Theaters. Was ist das Ziel der „Recherchereise“?
Es war eine Recherchereise. Zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern hat der Autor Bernhard Studlar den Gründungsmythos erforscht – und auf Basis der Ergebnisse ein Stück geschrieben. Die Idee ist, an allen Ecken und Enden wieder die Theatergeister auferstehen zu lassen. Die Uraufführung hätte bereits stattfinden sollen, aber dann kam der Lockdown, das Theater war ein halbes Jahr geschlossen. Wir planen die Uraufführung daher für den Juni 2021.
In der Schließzeit waren alle Mitarbeiter in Kurzarbeit?
Bis auf wenige Ausnahmen, darunter die Leitung.
Ist das nicht sonderbar? Die Theater prangern das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich an. Auf der anderen Seite befördern sie die Entwicklung noch. Denn nur die Mitarbeiter hatten auf zehn bis 20 Prozent des Gehalts zu verzichten, das Leitungsteam hingegen hatte keine Einbußen.
Durch Corona sind viele Ungleichheiten in der Gesellschaft noch größer geworden. Und viele Menschen wurden arbeitslos. Bei uns am Theater konnte die Leitung die Kurzarbeitszeitregelung nicht in Anspruch nehmen, da sie in der Organisation des Lockdowns sogar mehr Arbeit hatte als sonst. Wir haben daher einem freiwilligen Gehaltsverzicht zugestimmt. Und die meisten Gäste haben trotz der Vorstellungsabsagen Gagen ausbezahlt bekommen – bis zu 100 Prozent. Wir bemühen uns also schon um soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Aber was noch auf uns zukommt, kann ich nicht abschätzen. Wir können eben nur auf Sicht fahren.
Noch punkten Sie zumindest mit hohen Auslastungszahlen. Weil eben nur 50 Prozent der Plätze zur Verfügung stehen.
Es stimmt, wir sind zu 100 Prozent ausgelastet. Das Publikum braucht und will Theater. Aber wir befinden uns in einem Ausnahmezustand. Bei nur halb so viel möglichen Plätzen ist die Frage der Auslastung nicht vordringlich. Es muss jetzt wieder mehr um die Inhalte gehen. Und wir wollen die Themen verhandeln, die derzeit emotional aufkochen, darunter die Gleichstellung von Mann und Frau sowie Fragen der Diskriminierung, Toleranz und Migration.
Sie haben die Saison u. a. mit Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ gestartet. Ist es überhaupt sinnvoll, den Roman derart zu verdichten?
Jede Dramatisierung muss Stellen auswählen. Die Essenz bleibt ja erhalten: Die Welt will betrogen werden – und in schwierigen Zeiten wie gerade jetzt haben wir es immer auch mit Hochstaplern und Narzissten zu tun. Es handelt sich, wie bei Felix Krull, um Menschen, die eine faszinierende Ausstrahlung haben. Ihnen gehen unglaublich viele Menschen auf den Leim. Das reicht von Influencern bis zu Politikern, die als Diktatoren ihr Unwesen treiben. Auch Leute am Theater sind dafür anfällig.
Warum heuer gleich zweimal Thomas Mann?
„Felix Krull“ hätte schon in der letzten Spielzeit herauskommen sollen. Aber wegen Corona … Ich habe darüber nachgedacht, mich aber trotzdem entschieden, auch den „Zauberberg“ zu bringen. Denn der Nobelpreisträger Mann behandelt in beiden Romanen erstaunlich zeitgemäße Themen.
Der „Zauberberg“ spielt ja in einer Lungenheilanstalt.
Der Alltag wird bestimmt von permanentem Fiebermessen und Lungenröntgen. Es ist doch interessant, wie die medizinischen Begrifflichkeiten plötzlich auch unser Leben mitprägen.
Wegen Corona gibt es bei Ihnen keine Pausen und kein Socializing. Der Roman hat aber gut 900 Seiten, Thomas Manns Sprache ist äußerst ausladend. Und das wollen Sie wirklich in 90 Minuten abhandeln können?
Es geht nicht darum, den Roman nachzubuchstabieren. Aber wir sind tatsächlich am Überlegen, ob zur Premiere im Jänner nicht doch eine Pause möglich ist.
Es drohen bundesweit wieder massive Restriktionen. Würden Sie auch für 50 Besucher spielen? Oder, wenn es eine Ausgangssperre ab 20 Uhr geben sollte, am Nachmittag?
Natürlich. Wir spielen – sobald es geht, solange es geht, auch am Nachmittag und auch für wenige Leute. Das sind wir dem Publikum schuldig, das müssen wir uns leisten dürfen.
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