Kleiner Fuß, große Fußstapfen: Expertin entdeckt Michelangelo-Zeichnung

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Die Studie für die "Libysche Sibylle" in der Sixtinischen Kapelle wurde Christie's zur Schätzung angeboten und soll 2 Millionen wert sein.

Es ist vermutlich die Hoffnung, die alle Kandidaten der Show "Bares für Rares" insgeheim hegen: Ein Erbstück wird Experten zur Schätzung vorgelegt und entpuppt sich plötzlich als etwas wirklich Großes. Auch wenn es, wie im vorliegenden Fall, gerade einmal 11,5 mal 13,5 Zentimeter groß ist. 

Doch die Zeichnung eines Fußes, die ein Interessent zunächst als Foto auf der Online-Plattform des Auktionshauses Christie's einreichte, entpuppte sich tatsächlich als bisher unbekannte Originalzeichnung von Michelangelo. Zumindest hat Christie's, das das Blatt am 5. Februar in New York verkaufen will (Schätzpreis 1-5-2 Millionen US-$), einigen Grund, das zu behaupten. Ab morgen, Donnerstag, wird die Zeichnung im Londoner Hauptquartier des Auktionshauses ausgestellt, sie wird bis 2. Dezember zu sehen sein. 

Schwierige Zuschreibung

Freilich ist bei "Entdeckungen" dieser Art höchste Vorsicht geboten: Denn von Michelangelo, der seine Werke zwar akribisch in Zeichnungen vorbereitete, aber sehr viele davon noch zu Lebzeiten vernichten ließ, sind verhältnismäßig wenige gesicherte Blätter bekannt - etwa 600 sind es.  

Dem steht eine Flut von Zeichnungen gegenüber, die Schüler und Nachfolger nach Michelangelos Werken anfertigten. Und auch Fälscher witterten immer wieder die Gelegenheit, eine "unbekannte" Version eines bekannten Motivs des Renaissancegenies in den Markt einzuschleusen. 

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Die Rückseite entzückte

Im vorliegenden Fall überzeugte die Christie's-Expertin Giada Damen eine Entdeckung, die sie auf der Rückseite des Blattes machte: Da die Zeichnung des Fußes auf ein anderes Papier aufgeklebt wurde, sah man diese erst auf einer Infrarot-Fotografie. 

Doch auf der Rückseite der in roter Kreide ausgeführten Zeichnung fanden sich noch weitere Skizzen in schwarzer Kreide, die mit einem Blatt im Einklang standen, das sich in der Sammlung des New Yorker Metropolitan Museums befindet. "Die Christie's-Zeichnung enthält klare Beweise, dass es aus einem größeren Studienblatt wie jenem in der Met-Sammlung, das mehrere Studien enthielt, ausgeschnitten wurde", heißt es in der Aussendung des Auktionshauses.

Der in Wien lehrende Kunsthistoriker Achim Gnann, ein führender Experte für italienische Zeichnungen der Renaissance, hält es auf KURIER-Nachfrage für plausibel, dass die Zeichnung "wirklich eine tolle Neuentdeckung" ist - er schickt aber voraus, dass er prinzipiell keine Zuschreibung vornehmen möchte, ohne zuvor das Original studiert zu haben.

"Das neu entdeckte Blatt steht mit dem rechten Fuß der Lybischen Sibylle in Zusammenhang, wobei der Zeichenstil unmittelbar mit einem Blatt im Metropolitan Museum in New York vergleichbar ist, auf dem Michelangelo den Oberkörper, den Kopf, die linke Hand und den linken Fuß dieser Sibylle studiert hat", erklärt Gnann. "Sogar die alte Federaufschrift am linken unteren Rand ist unmittelbar ähnlich, was nahelegt, dass die Zeichnungen aus der gleichen Sammlung kommen."

Der "Michelangelo-Sammler"

Die Inschrift - "Michelangelo Bona Roti" wurde auf mehreren bekannten Michelangelo-Blättern von einem Sammler des 16. Jahrhunderts hinzugefügt. Welchen Weg das Blatt danach nahm, ist zwar nicht lückenlos belegt. Der in den USA lebende Einbringer, der laut Christie's anonym bleiben wollte, konnte aber seine Familiengeschichte auf einen Schweizer Diplomaten namens Armand François Louis de Mestral  von Sankt Saphorin zurückführen, der sich im 18. Jahrhundert als Sammler von Altmeisterzeichnungen einen Namen gemacht hatte. 

Auf wen das Blatt in weiterer Folge übergeht, bleibt abzuwarten. Mit seinem Schätzwert liegt das Werk deutlich unter dem Rekordpreis für eine Michelangelo-Zeichnung (dieser wurde 2022 mit 20 Millionen Euro erzielt). Die Taxe sei so gewählt, dass sie Konkurrenz der Bieter befeuert, sagte der leitende Christie's-Experte für Altmeisterzeichnungen der New York Times. Dem Käufer könnte der Fuß also durchaus teuer zu stehen kommen. 

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