Sibylle, die Zeitungen und die Pandemie: Neue Ausstellung an der Akademie

46-219434359
Die Belgierin Ana Torfs verarbeitete die Corona-Zeit, indem sie Blätter sammelte. Daraus wurde eine Werkserie, die virtuos mit antiken Mythen spielt.

Am Dienstag, den 14. 10., lancierte ein Wiener Künstler namens Zino Weinstein eine Online-Petition, die sich für die Errichtung einer „Corona-Gedenksäule“ am Wiener Stephansplatz – analog zur Pestsäule am Graben – stark macht. Auch wenn der dafür vorgebrachte Entwurf sehr schlicht anmutet und nach einer fachkundigen Jury schreit, sind die dahinterliegenden Fragen durchaus relevant: Wie verarbeitet eine Gesellschaft einen Ausnahmezustand? Wie wird ein Ereignis wie die Pandemie in den Lauf der Geschichte eingegliedert, wie erinnert man sich daran?

In der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste sind derzeit gleich am Eingang ein paar historische Zugänge zum Thema versammelt. Zu sehen ist da etwa ein Kupferstich nach Nicolas Poussin, der die in der Bibel geschilderte „Pest von Ashdod“, die als Strafe Gottes über die Philister kam, unter dem Eindruck einer Pestepidemie um 1630 malte.

46-219433922

Haltbare Mythen

Der Rückgriff auf historische und mythologische Erzählungen hat sich als Orientierungshilfe innerhalb eines „großen Ganzen“ also bewährt. Doch die Gemäldegalerie lässt es damit nicht bewenden: Immer wieder überrascht deren Direktorin Sabine Folie mit unkonventionellen Zugängen zu Alter Kunst und antiken Stoffen, wie man sie sonst allenfalls von Theaterregisseurinnen und -regisseuren, kaum aber von Kuratorinnen in Altmeistersammlungen gewohnt ist.

Für die jüngste Episode der in die Schausammlung integrierten Serie „Inserts“ hat Folie die belgische Künstlerin Ana Torfs verpflichtet. Diese hatte sich während der Corona-Lockdowns im Jahr 2020 mit der „Aeneis“ des römischen Dichters Vergil befasst. Nach der wiederholten Absage einer Ausstellung begann sie, im Umfeld ihrer Brüsseler Wohnung herbstliche Blätter zu sammeln und diese zwischen Zeitungspapierblätter gepresst zu trocknen.

Webstuhl & Druckerpresse

Die daraus resultierende Werkserie, die in den Sälen der Gemäldegalerie nun in vier Gruppen präsentiert wird, erzeugt ein in jeder Hinsicht dicht gewebtes Netz von Spuren, Verweisen und Anspielungen. Denn Torfs transformierte die Ergebnisse ihrer Pandemie-Arbeit: Sie fotografierte die schlichten Blätter vor Zeitungsfragmenten, die mehr oder weniger direkt auf die Geschehnisse der Coronazeit verweisen, und ließ mithilfe computergesteuerter Webstühle 28 Teppiche daraus weben.

Ana Torfs, Musterstück für die Serie "The day you were thinking about the sibyl..."

Frei nach dem Spruch, wonach (gedruckte) Zeitungen heute Nachrichten, morgen Einwickelpapier und übermorgen der Stoff der Geschichte sind, verwandelte Torfs also das Flüchtige in etwas Beständigeres – mit bewusstem Verweis auf die Tradition der Brüsseler Webereien, die im 16. Jahrhundert einige der prächtigsten Tapisserien der Welt herstellten.

Sibylle, die Rätselhafte

Doch auch mit dieser Transformation begnügt sich die Schau noch nicht: Die Blätter verknüpfte die Künstlerin nämlich auch noch mit ihrer Lektüre der „Aeneis“.

In dieser Erzählung kommt die Sibylle von Cumae vor. Sie war eine jener prophetisch begabten Frauen, die nahe Neapel in einer Höhle gesessen und rätselhafte Weissagungen auf Blätter geschrieben haben soll.

46-219434361

Wie sich herausstellt, wurden die Sibyllen in der Kunstgeschichte häufig dargestellt – am prominentesten wohl von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle. Doch auch in der Gemäldegalerie und dem Kupferstichkabinett der Wiener Akademie fand sich bemerkenswert viel „sibyllinisches“ Material, das nun – ergänzt durch Leihgaben aus dem Kunsthistorischen Museum – als Sparringpartner für Torfs’ Teppiche in der Galerie hängt.

Die Künstlerin selbst versah ihr Arrangement aus Zeitungs- und Herbstblättern noch mit kurzen Texten, die Tagebucheinträge, Nachrichten, Weissagungen, aber auch „Fake News“ sein könnten – so genau weiß man das nicht.

Die Verschaltung von aktuellen Fragen und Alter Kunst ist jedenfalls virtuos: anspruchsvoll, gewiss, aber dank der sinnlichen Anmutung und der vielen Hinweise nichts, was nicht auch Leser der „Percy Jackson“-Bestseller begeistern könnte.

Kommentare