Die Figur scheint ganz aus Blättern zu bestehen, doch sie bewegt sich wie ein Mensch. Sie dreht sich, tanzt – manchmal scheint sie sich aber eher durch eine schier endlose Wiesenlandschaft dahinzuschleppen. Sie wirkt müde.
Wer die Gelegenheit hatte, die Videoinstallation „Leaf Work“ des teilweise in Wien lebenden Künstlers John Gerrard über längere Zeit zu sehen, bemerkte auch, dass sich die Blätter über Tage und Wochen verfärbten. Tatsächlich wiederholen sich die digital generierten Bilder in dem Werk nie, sondern bilden den Lauf eines ganzen Jahres ab – hergestellt mit Technologien, wie siein vielen Bereichen der künstlichen Intelligenz zu finden sind.
Keine Obstgesichter
Keine Frage: Die Kunst hat einen weiten Weg zurückgelegt von den gotischen Kalenderbildern, den Obstgesichtern Arcimboldos oder den impressionistischen Landschaftsgemälden, die einst die Natur und ihre Veränderungen erfassen sollten. Die Grenzen zwischen Natur und Technik sind ebenso durchlässig geworden wie jene zwischen dem Menschen und der lange Zeit als geist- und seelenlos dargestellten Tier- und Pflanzenwelt.
Viel Theorie ist in den vergangenen Jahren publiziert worden zu jenem Umdenken, das Tiere nun als „nicht menschliche Akteure“ bezeichnet und von gegenseitiger Verwobenheit und Koexistenz des Menschen mit seiner Umwelt spricht. Das Bestreben, sich dies vorzustellen zu können, prägt die Kunstproduktion der jüngeren Zeit massiv – und bringt neue Ästhetiken hervor.
In den Biennalen und den Themen- und Gruppenausstellungen, die den Puls des Kunstzeitgeists fühlen, lassen sich dabei immer wieder gewisse Leitfossilien feststellen. Die auf Langzeitbeobachtungen fußende, aber kunstwissenschaftlich unzureichend fundierte Hypothese Ihres Redakteurs besagt, dass die Ära des Baumes (Großausstellung zuletzt im Belvedere 2022) ihren Zenit überschritten hat und auch das Meeresgetier am Markt nicht mehr ganz frisch ist (Oktopusse waren eine Weile als Sinnbilder dezentralisierten Denkens sehr en vogue, ebenso Quallen und Mollusken).
Dafür sind Pilze bzw. Pilzgeflechte aus dem Imaginationsrepertoire der Gegenwartskunst derzeit nicht wegzudenken: Theorien, die Pilzen eine wichtige Rolle für die Kommunikation zwischen Bäumen und anderen „Akteuren“ zuschreiben oder sie als Modelle fürs Überleben unter widrigen Umständen darstellen, erhielten zuletzt durch Autorinnen wie Anna Tsing („Der Pilz am Ende der Welt“) oder Merlin Sheldrake („Verwobenes Leben“) Auftrieb. Echos davon sah man in Wien zuletzt in der mumok-Ausstellung „Mixed up with others“ oder aktuell in der Schau „Human Nature“ im Künstlerhaus, wo die Künstlerin Michaela Bruckmüller Baumschwämme visuell erforscht.
Die Vorstellung eines verzweigten, aktiven Netzwerks erscheint auch als brauchbare Metapher für das Vergehen und Werden der Natur, aber auch für jene Verbindungen, die in der digitalen Welt unser Leben bestimmen.
Als (un)heimliches, alles durchziehendes Untergrund-Phänomen taucht das Myzel dann auch in popkulturellen Kontexten wie dem Netflix-Hit „Stranger Things“ auf.
Die Idee einer beseelten, aktiven Natur – im Zeitalter der Moderne als esoterisch abgetan – feierte in der Kunstwelt freilich nicht erst in jüngster Zeit Renaissance.
Alchemie und Aktivismus
Eine Ausstellung am Londoner Standort der Galerie Thaddaeus Ropac versammelt derzeit Werke, die unter dem Motto „Alchemie“ zusammengefasst sind: Von Joseph Beuys über Anselm Kiefer bis zu Andy Warhol versuchten Künstler wiederholt, die Kontrolle über ihr Material abzugeben und – mit Blei, Urin, Honig – Konstellationen zu schaffen, die Natur nicht nur darstellen, sondern einbinden. Arte povera-Künstler Giuseppe Penone befassten sich bereits ab den 1960er-Jahren mit Naturprozessen.
Was heutzutage anders ist, ist die Koppelung solcher Ansätze mit der Klimakrise und dem drängenden Gefühl, dass die Kunst etwas zu deren Linderung beitragen müsse.
Die Motivation ist angesichts der vielen akuten Themen nachvollziehbar – doch zweckgebundene Kunst ist sehr oft eine Gratwanderung, wie sich aktuell im Künstlerhaus oder auch in der Outdoor-Schau „Close/d“, die das Kunst Haus Wien für die Dauer seiner Schließzeit im dritten Wiener Gemeindebezirk installierte, sehen lässt. Ohne hier einzelne Werke negativ herausgreifen zu wollen: Manches, was dort zu sehen ist, wirkt allzu bemüht – oder aber als Illustration einer bestimmten These.
Stellenweise imponiert aber wieder die Präzision, mit der Künstler die Möglichkeiten ihrer Gestaltung konsequent durchdenken und erproben. Wenn auf diesem Weg die Erweiterung des Vorstellungshorizonts gelingt, hat die Kunst schon viel geleistet – auch und gerade in der Klimakrise.
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