Die Sehnsucht nach einer isolierten, meditativen Auseinandersetzung mit Kunstwerken hat eine lange Tradition, die immer wieder den Pfad des Zeitgeists kreuzte: War sie zunächst religiös grundiert, so kehrte sie in der modernen und zeitgenössischen Kunst in säkularisierter, ritualisierter Form immer wieder zurück.
Ein Mönch, ein Bild
Ein exemplarischer Kristallisationspunkt dieser Tradition ist das Dominikanerkloster San Marco in Florenz. Hier wurde 1439 der malende Mönch Guido di Pietro, besser bekannt als Fra Angelico, damit beauftragt, einzelne Klosterzellen mit Bildern auszustatten. Zwar erfand er das Format, das mittelalterliche Andachtsbilder vorgegeben hatten, nicht neu, er übersetzte es aber für das stärker menschenzentrierte Kunstverständnis der Renaissance. Dass der Mäzen und Kenner Cosimo de Medici als Geldgeber auftrat und auch eine eigene Zelle für sich selbst „bestellt“ hatte, deutet schon auf eine veränderte Wertschätzung des Kunsterlebnisses abseits reiner Andacht hin.
Fra Angelicos Fresken sollten ein Markstein für Künstler aus aller Welt bleiben. Einer von ihnen war der aus Lettland stammende, in den USA heimisch gewordene Maler Mark Rothko, der die Zellen auf seiner ersten Europareise 1950 besichtigte. Die Einheit von Kunst und Umfeld beeindruckte ihn tief und sollte sein ganzes weiteres Werk prägen: In seinen großflächigen, abstrakt-einfärbigen Bildern suchte Rothko seine Betrachter förmlich zu umhüllen, zeitlebens suchte er nach der idealen Betrachtungssituation. Der Künstler, selbst jüdischer Herkunft, fand sie zuletzt in einem Bethaus: Die 1971 eingeweihte, für alle Konfessionen gedachte „Rothko Chapel“ in Houston/Texas sollte heuer nach einer Renovierung am 20. Juni wiedereröffnen (derzeit hält man an dem Datum fest).
"Das Schöne ist Distanzierung"
Dass Tempel, Kapellen und Mönchszellen mitunter eine nahtlose Fortführung im Feld der Kunst fanden, hat wohl mit einem menschlichen Bedürfnis zu tun, das tiefer reicht als jenes der religiösen Praxis. „Das Schöne schließt den Sinn für das Heilige mit ein“, schrieb der New Yorker Kritiker Peter Schjeldahl 1994: „Es umgibt ein Objekt mit der Aura der Unantastbarkeit, errichtet das Tabu seiner Verletzung (…) Das Schöne ist Distanzierung.“
Schjeldahls Text war als Streitschrift gegen eine allzu kopflastige Einstellung zur Kunst gedacht, könnte aber auch als Plädoyer für einen meditativeren Kunst-„Konsums“ gelesen werden. Und tatsächlich sind die Beispiele, in den Künstler in jüngerer Zeit einsame Räume zum Erlebnis von Schönheit gestalteten, zahlreich. Der Lichtkünstler James Turrell schuf etwa eine Reihe von Zellen, durch deren Dach sich das Schauspiel des Himmels in besonderer Form betrachten lässt. Ein solcher „Skyspace“ steht im Park des vom Wiener MAK betreuten Geymüllerschlössls, ein anderer am Mönchsberg in Salzburg. In der Wüste Arizonas arbeitet Turrell seit Jahrzehnten an einer monumentalen Umsetzung der Idee – das Projekt „Roden Crater“ hat bereits Stonehenge-artige Dimensionen.
Das Wiener KHM aktivierte ebenfalls die Idee, ein einzelnes Kunstwerk in einem abgeschotteten Raum zu betrachten, mit dem Theseustempel in Wien - die Eröffnung des heurigen Beitrags von Susanna Fritscher wurde allerdings vertagt. Weitere Meister in der Gestaltung von „Schönheitszellen“ sind Olafur Eliasson, der mit Architekt David Adjaye im Auftrag der Mäzenin Francesca Thyssen-Bornemisza einen Pavillon auf der kroatischen Insel Lopud baute, oder der Deutsche Wolfgang Laib, der 2019 seine Kreationen aus Blütenpollen und Bienenwachs just in den Mönchszellen des Fra Angelico in Florenz platzierte. Auch in der Kulturhauptstadt Linz wurde 2009 die Möglichkeit geschaffen, eine Stube am Turm des Mariendoms zu bewohnen - als Eremit mitten in der Stadt.
„Massentauglich“ sind solche Erlebnisse nicht – doch sie müssen auch nicht zwingend einer Elite vorbehalten sein. In Österreich war das private Essl Museum das erste, das 2012 und 2016 mit dem Angebot aufhorchen ließ, einen Raum mit nur einem Kunstwerk und einem Lehnsessel für eine Stunde zu „bewohnen“. Auch andere Häuser haben den Bedarf nach Innerlichkeit bereits entdeckt – etwa das Belvedere mit seiner „Bel Silenzio“-Reihe oder die Fondation Beyeler in Riehen/Basel mit einer (vorzeitig geschlossenen) Sonderschau zum Thema der Ruhe. Im gegenwärtigen Stillstand bleibt die Frage, ob ein Stakkato von Attraktionen die „Normalität“ ist, zu der es wieder zurückzufinden gilt – oder ob die Institutionen doch einen jener Fäden aufgreifen, die zur stillen Reflexion führen.
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