Die Jarays, im 19. Jahrhundert aus Temesvar nach Wien gekommen, brachten es auf mehreren Ebenen zu Wohlstand und Ansehen. Tess Jarays Urgroßvater gründete eine Möbelfabrik, aus anderen Linien der Familie gingen u. a. Paul Jaray, einer der Entwickler der stromlinienförmigen Karosserie, oder der Kammerschauspieler Hans Jaray hervor.
Eine Großtante der Künstlerin war Lea Bondi-Jaray, Inhaberin der Galerie Würthle, die bis zu deren „Arisierung“ 1938 (siehe Artikel unten) für die Moderne in Wien maßgeblich war.
„Meine Eltern waren bereits über 30, als sie emigrieren mussten“, erzählt Tess Jaray. „Ihre prägende Zeit waren die 1920er Jahre in Wien gewesen, eine unglaublich kreative Periode. Ungeachtet aller Verluste redeten sie später viel über ihre Familie, und so wurde sie mir vertraut. Als ich 19 war, im Jahr 1957, fuhren wir dann gemeinsam nach Millstatt in Kärnten und für ein paar Tage nach Wien.“
Die eigene künstlerische Laufbahn Jarays war in jenen Tagen schon angelegt, wie sie erzählt. Neben Klimt und Schiele („da geht es um Sex, Verlangen, Lust, das gefällt jedem Teenager“) war es besonders ein Besuch im Stephansdom, der damals nachhaltigen Eindruck hinterlassen sollte. „Einige meiner frühen Bilder haben eine gotische Struktur, die kommt von da“, sagt Jaray.
1969 kaufte das heutige mumok das Bild „St. Stephen’s Green II“. Die erste, farblich etwas andere Version ging erst 2020 ans Centre Pompidou. Jaray: „Diese Bilder haben ihren Ursprung im Dachziegel-Muster des Doms.“
Architektur bleibt bis heute ein wichtiger Ausgangspunkt von Tess Jarays Malerei, wobei sie keineswegs Gebäude malt. „Was mich interessiert, ist der emotionale Eindruck, den Architektur auf die Erfahrung des Moments ausübt“, sagt die Künstlerin. „Was macht den Unterschied aus, wenn ich im Stephansdom oder in einem Zeitschriftenladen in London stehe? Ich versuche, Räume zu schaffen, die einen ähnlichen Eindruck vermitteln, wie wenn ich mich in großartiger Architektur befinde.“
Zeichnungen – einige davon werden anlässlich der Secessionsschau als Buch publiziert – stünden immer am Beginn dieses Prozesses, sagt Jaray. Dann gelte es, eine adäquate Farbkomposition zu finden. Jaray setzt dabei ihre Erfahrungsräume nicht nur auf Leinwand um – sie schuf auch zahlreiche Werke im öffentlichen Raum, zuletzt etwa im Londoner Stadtteil King’s Cross. Die Formen waren von der Zitadelle der syrischen Stadt Aleppo inspiriert, die Jaray noch vor der Zerstörung besucht hatte.
Auch wenn Jaray ihre Bilder nie als direkte Reaktionen verstanden wissen will, ist das Echo von Verlust und Erinnerung sicht- und spürbar. Ihre Großtante Lea Bondi-Jaray, erzählt sie, habe sie dabei immer im Wunsch bestärkt, Künstlerin zu werden.
„Ich lebte für eine Weile in ihrem Haus, es muss so 1955, 1956 gewesen sein. Sie war da schon um die 80 Jahre alt – und sie blieb bis zu ihrem Tod an Kunst interessiert. Sie war immer sehr warmherzig und nett zu mir“, erzählt sie. „Ich erinnere mich, dass sie ein sehr schönes Gemälde von Emil Nolde in ihrem Wohnzimmer hatte, von einem Buben mit Hut, dessen Krempe und Schatten mit einem Pinselstrich gemalt war. Nach ihrem Tod wurde es um viel Geld verkauft – aber sie selbst hatte am Ende kein Geld.“
Bondi-Jaray hatte nach der Emigration noch einmal eine Galerie in London eröffnet, die aber 1950 schließen musste. „Doch meine Großtante trug zum kulturellen Leben Londons zu jener Zeit bei. Ich finde, sie wurde dafür nicht genug gewürdigt“, sagt Tess Jaray heute.
Dass ihre eigene Sichtbarkeit – mit diversen Ehrungen, Publikationen und Ausstellungen – zuletzt höher und nun mit der Überblicksschau der Secession auch internationaler wird, kommentiert die Künstlerin mit trockener Genugtuung. „Kunstschaffende bekommen eine Menge Aufmerksamkeit, wenn sie jung sind, und eine Menge Aufmerksamkeit, wenn sie alt sind“, sagt Jaray. „Es gibt allerdings noch diese eher schwierigen 50 Jahre in der Mitte, in denen man nicht wirklich bemerkt wird.“
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