Surrealismus und Politik: Da war der Wahn! Sinn! Los!
In Wendezeiten, so viel lässt der kulturgeschichtliche Hausverstand konstatieren, gedeiht das Absurde. Althergebrachte Sinnhülsen können das, was in der Welt vorgeht, nicht mehr richtig fassen, man stöpselt sich hybride, teils komische, teils monströse Formen zusammen oder flüchtet sich in etwas, das die Band Talking Heads einst auf den Slogan „Stop Making Sense!“ brachte.
In der Kunstgeschichte begegnet uns derlei zwar schon früh - man denkt an antike Janusköpfe, mittelalterliche Mischwesen und Hieronymus Boschs Höllenvisionen. Doch so richtig zur Hochform lief die Kunst im Gefolge des Ersten Weltkriegs auf, die entsprechenden Bewegungen hießen Dadaismus und Surrealismus.
Alles zerfließt
Letzterer wird heute gern als traumwandlerische Formfindung einiger narrischer Sigmund-Freud-Adepten verharmlost (Zerfließende Uhren! Tintenkleckse! Pfeifen, die gar keine Pfeifen sind!), und tatsächlich hatte das erste Surrealistische Manifest, das im Vorjahr sein 100-Jahr-Jubiläum feierte, primär die Reise ins Unbewusste im Blick.
Eine Ausstellung im Münchner Lenbachhaus erinnert nun aber noch bis 2. März daran, dass die Strömung, die den Boden für so ziemlich alles bereitete, was danach kam, auch hochgradig politisch war. Dabei beschränkt sich die Schau nicht in der Dokumentation jener Aktivitäten, die Surrealisten und ihre Gefolgsleute gegen die faschistischen Tendenzen ihrer Zeit setzten: Spürbar aus der Perspektive heutiger Diskurse gedacht, kehrt sie auch die frühe Parteinahme der Surrealisten gegen den Kolonialismus hervor und feiert ihr Aufbegehren gegen Regeln aller Art.
So zeigt sie die Künstler*innen Claude Cahun und Marcel Moore, deren Identität man heute wohl „genderfluid“ nennen würde. Sie bildeten mit ihrer Selbstinszenierung eine Avantgarde bei der Verunklarung von Geschlechterklischees, arbeiteten aber auch im Widerstand und fertigten Anti-Nazi-Propaganda an.
Nebengleise
Die Vielzahl der Erzählungen überfordert in Summe - und doch ist der historische Blick auf die Widerborstigkeit dieser Kunst erhellend: Der Surrealismus, der als literarische Bewegung seinen Ausgang nahm, brachte schließlich einige der stärksten künstlerischen Statements gegen die Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts hervor und war - mit politischen Pamphleten, satirischen Kommentaren und Benefiz-Aktionen - stets auch tagespolitisch aktiv.
Insbesondere der Spanische Bürgerkrieg (1936-39) erwies sich hier als Kristallisationspunkt: Der Weltausstellungspavillon von 1937, in dem Picassos Antikriegsbild „Guernica“ ausgestellt war, ist in der Schau als Modell rekonstruiert.
Unterdrückt
Ebenfalls 1937 zogen die Nazis in Deutschland mit ihrer Schmähausstellung gegen „entartete Kunst“ zu Felde. Der Widerstandsgeist bereits emigrierter Künstler wurde mit dem Einmarsch der Nazis in Frankreich 1940 herausgefordert: Ein Fokus-Kapitel lenkt die Aufmerksamkeit auf das Internierungslager Les Milles in der Provence, in dem die Surrealisten Max Ernst, Hans Bellmer und Wols teils zeitgleich angehalten wurden. Ihre Zeichnungen bezeugen die Beengung und Angst in einer ungewissen Situation.
Bei aller Dringlichkeit ist die Geschichte des Surrealismus aber auch eine von Dogmen, Abspaltungen, Ideologiefragen und großen Egos - und schon bevor die Münchner Schau ihren Blick (nicht immer nachvollziehbar) auf diverse Splittergruppen und globale Regional-Abteilungen diffundiert, raucht einem der Kopf von den Kämpfen, die der innere Zirkel der Bewegung einst ausfocht: Wie sollte man etwa mit dem Stalinismus umgehen? Wie sehr war direkte Aktion gefragt, inwiefern blieb die Gruppe um Surrealistenpapst André Breton das, was ihr Antagonist Georges Bataille „emmerdeurs idéalistes“ („idealistische Scheißer“) nannte?
Das Problem der Ausstellung, die von einem 600-seitigen Kompendium an Quellenmaterial - Bilder, Pamphlete, Kommentare - begleitet wird, ist, dass sie von ihrem Publikum das ständige Hin- und Herschalten zwischen detaillierter historischer Aufarbeitung und dem ganzheitlichen Blick verlangt. Als Leitstern einer Kunst, die sich jeglicher Beherrschbarkeit entsagt, steht der Surrealismus gerade in jüngerer Zeit wieder als Leuchtturm da. Seine vollmundigen revolutionären Versprechungen sind aber wohl nur im Kontext der Zeit zu verstehen.
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