Kriminell gut: Die Crime-Girls kommen
Böse ist einfach besser. An vier Romanen hat sich die 1972 in Simbabwe geborene britische Journalistin Paula Hawkins versucht. Pech. Die unter dem Pseudonym Amy Silver veröffentlichten Schmöker blieben Ladenhüter. Kein Problem für Paula. Dann eben Plan B(öse).
Paula Hawkins
Monatelang brüteten Lektoren und Marketingexperten darüber, was alles aus den Erlebnissen der voyeuristischen Pendlerin Rachel herauszuholen sei. Bald machten in der Szene die Gerüchte von einem „Fenster zum Gleis“-Geheimtipp die Runde. Spannung war gesät. Mit Erfolg. Aus England und den USA berichteten die Buchhandlungen bald von einem reißenden Absatz. Am Höhepunkt des Hypes verkaufte sich der Thriller 20.000-mal pro Sekunde.
Verkaufsfördernd war in jedem Fall, dass die Startauflage der deutschen Übersetzung von 150.000 Exemplaren von einer gigantischen Werbeaktion auf allen größeren Bahnhöfen begleitet wurde. Drei Jahre nach dem Überraschungserfolg von "Gone Girl" fand sich mit "Girl on the Train" erneut ein Mädchen ganz oben in den Bestsellerlisten. Weltweit. Denn bevor der Krimi tatsächlich zu einem Hit wurde, waren die Buchrechte schon in 45 Länder verkauft.
150.000 Startauflage
Ein kalkulierter Erfolg. Marktanalysen behaupten seit Langem, dass Frauen eher zwischen Buchdeckeln abtauchen als Männer. Besonders dann, wenn sie sogar im Titel direkt angesprochen werden. "45 Prozent der Frauen lesen täglich oder mehrmals in der Woche, aber nur 27 Prozent der Männer", so das verblüffende Ergebnis, das sich immer mehr Krimiautorinnen zu Nutze machen. So finden sich in den Buchhandlungen in der Krimi-Ecke nicht nur bekannte Namen wie Patricia Highsmith, Sara Paretsky, Sue Grafton oder Ruth Rendell – für Österreich: Eva Rossmann, Claudia Rossbacher oder Beate Maxian –, sondern immer mehr Newcomer.
"Girl on the Train" (Blanvalet, 448 Seiten, 13,40 €) Der Psychothriller rund um mysteriöse Beobachtungen der Pendlerin Rachel ist ein Best-
seller. Mittlerweile wurden elf Millionen Exemplare verkauft. Und die Verfilmung mit Emily Blunt als Rachel führt in den USA die Kinocharts an.
Hierzulande startet er kommende Woche.
Melanie Raabe
Die 35-jährige Melanie Raabe aus Jena etwa steht mit beiden Beinen im Leben, wollte als Kind Stuntfrau werden, wechselte vom Fußball- zum Shakespeare spielen und schrieb dann in Köln tagsüber für eine Zeitung sowie nachts für sich selbst. Weil’s zur Dunkelheit gut passt, eben Krimis. Für "Die Falle", ihr im Vorjahr erschienenes Debüt, interessiert sich mittlerweile Hollywood. In "Die Wahrheit", ihrem neuen Krimi, entwickelt Raabe geschickt einen Plot für die Paranoia-Generation: "Sie kennt ihn nicht. Doch er weiß alles über sie", macht das Cover Lust auf die Lektüre. Inhalt: Ein vermeintliches Entführungsopfer sorgt Jahre später für Aufregung und Verwirrung.
"Diese Frau ist eine Sensation", titelte Die Welt vor kurzem über Melanie Raabe. Eben erst las die literarische Entdeckung aus Thüringen bei der Wiener Kriminacht. Ihre Bücher schreibt sie am Küchentisch: Ein gelungenes Rezept – die Krimis der 35-jährigen Deutschen werden weltweit gelesen.
Ane Riel
Oder die junge Dänin Ane Riel. Nach einer Reihe von Kinderbüchern und einem Buch über Kunstgeschichte wagte sich die mit einem Jazz-Schlagzeuger verheiratete Autorin vor einigen Jahren über einen schrulligen Spannungsstoff. Entlang des idyllisch klingenden Rotkehlchenwegs irgendwo in der dänischen Provinz fechtet eine alte, passionierte Zimtschnecken-Bäckerin ihren Kleinkrieg mit einem Postboten aus. Mit Erfolg. "Blutwurst und Zimtschnecken" (btb, 320 Seiten, 10,30€) wurde in Ane Riels Heimat als bester dänischer Krimi des Jahres ausgezeichnet.
Detox-Kur für die Seele
Die deutsche Journalistin und Kritikerin Margarete von Schwarzkopf hat eine Erklärung für diesen Trend. Sie definiert den Thriller-Effekt als "Entgiftungsprozess des Geistes": "Wir leben in einer Welt, die so blutrünstig ist, dass die Krimiwelt eine Erholung darstellt", führt Schwarzkopf aus. Der Thriller als Detox-Kur für die Seele, "weil es am Ende – anders als in den Nachrichten – eine Erlösung gibt, und weil die Opfer aus der Anonymität geholt werden."
Das Ergebnis einer Studie der Universität von Illinois in Chicago weist in dieselbe Richtung. Darin gingen Wissenschaftler der Frage nach, warum ausgerechnet sonst unauffällige Ehefrauen und Mütter so gern in den finsteren Welten von Psychothrillern fremdgehen. Die plausible Antwort: Diese fiktiven Geschichten dienen den Leserinnen als wichtige „Vorlage fürs Leben“, als Orientierung in Zeiten härterer Alltage, denn Frauen hätten mehr Angst vor Gewalttaten als Männer.
Jessica Knoll, 33, aus Pennsylvania zum Beispiel landete im Vorjahr mit ihrem Krimidebüt „Luckiest Girl Alive“ einen Bestseller. 450.000 verkaufte Exemplare binnen vier Monaten sorgten für große Freude. Aber kaum war die bedrückende Story um einen Schatten in der Vergangenheit einer Mitarbeiterin einer Modezeitschrift als „Ich. bin. so. glücklich.“ (Ink, 416 Seiten, 15,50€) ins Deutsche übersetzt, äußerte sich die Autorin zum schockierenden Hintergrund der Handlung. Als Teenager, so enthüllte Jessica Knoll in einem Essay, sei sie bei einer Highschool-Party von drei Burschen vergewaltigt worden. „Erst Jahre später habe ich von diesem einschneidenden Erlebnis einem Therapeuten erzählt“, schreibt sie darin. „Ich wollte nicht darüber sprechen, mich nicht damit belasten.“
Im Titel: Ein Girl
In einem Interview betonte sie, was sie sich vom Bucherfolg erhoffe: „Ich will, dass Frauen, denen Ähnliches widerfuhr, nicht länger schweigen, weil sie sich dafür schämen.“ Man kann davon ausgehen, dass auch die baldige Verfilmung dazu beitragen wird. Ein Hit wird sie sowieso. Besonders in den USA. Schon, weil sich im Original, „Luckiest Girl Alive“, ein wichtiges Detail im Titel findet – ein „Girl“.
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