Kommentar: Ein Lob des Kunstraums

Kommentar: Ein Lob des Kunstraums
Räume für Kunst ermöglichen Distanzierung und Teilhabe zur gleichen Zeit. Deshalb sind sie - nicht nur, aber gerade jetzt - so wichtig

Sie werden es vermutet haben, aber: Ich liebe Museen, Galerien und Kunsthallen. Die Freude, mich an diesen Orten aufzuhalten, macht einen großen Teil meiner Motivation aus, Kunstkritiken zu verfassen, denn so darf ich von Berufs wegen möglichst oft hin.

Die Freude wurzelt gleichsam in einem Widerspruch: Denn Kunsträume ermöglichen es, zu partizipieren und sich zur selben Zeit zu distanzieren. Das unterscheidet sie von den Räumen, die darauf abzielen, mehreren Menschen zeitgleich ein Erlebnis zu bieten – Kinos, Konzertsäle, Bühnen aller Art. Natürlich kann sich der oder die einzelne auch an diesen Orten, die uns jetzt so schmerzlich abgehen, mit dem Gebotenen  auch nur individuell auseinandersetzen, aber Kunsträume sind anders: Man wählt selbst sein Tempo durch den Raum, selektiert selbst die Objekte seiner Aufmerksamkeit, geht nah an sie heran oder nimmt Abstand, lässt sich allenfalls von subtilen Zeichen leiten, die ein Kurator oder eine Kuratorin durch das Arrangement der Werke gesetzt hat.

Orte der Freiheit

Kunsträume sind Orte der Freiheit, und idealerweise ermöglichen sie eine Freiheit des Denkens: Zwar schwört uns der Raum meist darauf ein, uns auf den Sehsinn zu konzentrieren, doch in einer entspannten Betrachtungssituation sprudeln die Assoziationen, Echos von bereits Gesehenem oder Gelesenem werden laut. Anstöße aus der Vermittlung – in Form von Führungen, Audioguides, Wandtexten – können diesem Prozess, der einer Gärung zu gleichen scheint, wie Hefebakterien auf die Sprünge helfen, doch letztlich ist man mit seiner Erfahrung allein.

Kommentar: Ein Lob des Kunstraums

Der Weg zu dieser Erfahrung führt notwendigerweise weg von großen Gruppen – nach dem Ablegen von Mänteln und Taschen an der Museumsgarderobe geht man nicht selten über massige Treppen oder durch längere Gänge, die für den Geist wie Dekompressionskammern wirken. Der Mindestabstand zu anderen Personen ist eigentlich das, was jeder Besucher hier anstrebt – und in den allermeisten Museen, abseits der so genannten „Blockbuster“-Ausstellungen, ist er auch ohne weiteres zu erreichen.

Zwischen Kunstwerk und Besucher wird ohnehin seit langem ein Mindestabstand eingefordert, wie jeder, der schon einmal irrtümlich eine Lichtschranke überschritt, bestätigen kann. Und doch ist der Kontakt, der sich in der normalen Distanz zu einem Kunstobjekt entspinnen kann, intensiver als bei den meisten gesellschaftlichen Ereignissen: Ein Altmeistergemälde etwa bringt nicht nur die Sitten und Gebräuche einer vergangenen Zeit buchstäblich nahe, sondern auch die Sichtweise des Künstlers, die Materialien seiner Werkstatt, die Formeln und Ideen, an denen er sich orientierte. Objekte zeitgenössischer Kunstschaffender tragen nicht nur die Geschichte des jeweils verwendeten Materials in sich, sondern die vielen Denkstränge, die erlaubt haben, dass ein solches Ding auch als Kunst ins Museum kommen konnte.

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Jedes gute Kunstwerk kann Einstiegspunkt für die Teilnahme an riesigen Ideengebilden, an jahrhundertelangen Traditionen und hochkomplexen Prozessen sein. Auch wenn manche Menschen enorm viel Geld investieren, um solche Einstiegspunkte ihr Eigentum nennen zu können, vermögen Kunstwerke auch jenen ein Gefühl von Reichtum zu geben, die sich einen solchen Kauf auch nicht einmal im Ansatz leisten können.

Und dennoch sind die Orte der Partizipation sind nur ganz selten physisch überfüllt. Die gegenwärtige Situation macht allerdings bewusst, dass jede Person, die sich dem solitären Kunstgenuss hingibt, auf der Spitze einer großen Pyramide steht, in der zahlreiche Kräfte eben jenes Erlebnis ermöglichen.  Die Struktur dieser Pyramide gilt es zu schützen – die Kunstschaffenden, die Museumsleute, die Galeristinnen und Galeristen, Kuratoren, Restauratoren. Das Erlebnis von Freiheit und Partizipation, das sowieso immer auch Abstand brauchte, sollte nicht auf den Tourismus oder einen wieder erstarkten Markt warten müssen.

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