Klassik auf Gran Canaria: Surfer vor der Oper

Klassik auf Gran Canaria: Surfer vor der Oper
Der Dirigent Karel Mark Chichon will das Orquesta Filarmonica de Gran Canaria an die Spitze führen. Von Susanne Zobl.

Ein überdimensionales Bullauge gibt den Blick frei auf das wogende Meer. Helles Blau wandelt sich in dunkles Grün, weicht einem diffusen Grau. Nein, das magische Spiel der Farben ist nicht der Ausblick von einer Luxus-Yacht, sondern das Hintergrund-Szenario an einem Arbeitstag des Dirigenten Karel Mark Chichon, wenn er mit seinem Orquesta Filarmonica de Gran Canaria im Auditorio Alfredo Kraus probt. Der 2001 in Las Palmas eröffnete Konzertsaal ist das Zuhause des Orchesters.

„Es ist ein Glück, hier zu arbeiten“, sagt Chichon und damit meint der auf Gibraltar geborene Brite nicht den drei Kilometer langen Sandstrand, die Playa de las Canteras, nicht das Meer, das das ganze Jahr über zum Baden lädt. Nachdem er seinen Posten als Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern 2017 drei Monate vor Vertragsende gekündigt hatte, weil er die Budgetkürzungen nicht mittragen wollte, suchte er etwas Neues.

Die Bedingungen auf Gran Canaria waren ideal. „Hier steht die Kultur im Zentrum politischen Interesses“, sagt Chichon. Das Orchester gehört der Cabildo (Gemeinde, Anm.), also eigentlich der Regierung. Mehr als 1100 Abonnenten sind für die Abonnement-Konzerte im 1700 Plätze umfassenden Auditorio Alfredo Kraus eingeschrieben. 250.000 Kinder bringt man pro Jahr in die Schul- und Familienkonzerte.

Als Chichon dem Minister vorschlug, das Orchester auch außerhalb der Kanaren bekannt zu machen, gab man ihm die Mittel, Journalisten aus Europa einzuladen. Der KURIER war dabei.

Klassik auf Gran Canaria: Surfer vor der Oper

Surfer vor der Oper

Das Szenario war beeindruckend. Während Surfer in den letzten Abendstunden in der vorgelagerten Bucht gegen die Brandung anstürmen, herrscht unter Chichons Stabführung im Konzertsaal Hochbetrieb.

Gustav Mahlers 2. Symphonie wird für das Saisoneröffnungskonzert perfektioniert. Und was dabei zu hören ist, klingt wirklich gut. Die Blechbläser intonieren präzise, die Streicher tönen in weicher Wärme. Die Musiker folgen Chichons Anweisungen mit absoluter Hingabe. Bratschistin Adriana Ilieva merkt an: „Er legt Wert auf jedes Detail. Aber das ist gut für uns.“ In der Tat. Chichon wacht nicht nur über jeden Ton, bei ihm muss alles passen.

Der Auftritt des Chors wird genau einstudiert. Die Gesangssolistinnen müssen ideal im Saal platziert sein. Eve-Maud Hubeaux (Mezzosopran) und Elisandra Melian (Sopran) proben ihre Einsätze mehrmals. 22 Uhr: Eigentlich wäre jetzt Feierabend. Doch Chichon ist noch ganz zufrieden. Er lässt die Musiker über die Verlängerung der Probe abstimmen. Selbstverständlich wird weitergemacht. Noch ein paar Takte vom Andante, dann noch das Scherzo.

Dann endlich, um 23.30 Uhr: „Buenas noches“. Aber nicht für alle. Englischhorn und Oboe müssen noch aufeinander abgestimmt werden. Die anderen können gehen. Kaum zu glauben, dass das Orchester kurz vor dem Aus stand, als Chichon vor einem Jahr erstmals ans Pult trat. Fast die Hälfte drohte ob grober Zerwürfnisse mit der damaligen Führung mit Streik. Um klare Verhältnisse zu schaffen, ließ sich Chichon die Doppelfunktion als Chefdirigent und künstlerischer Leiter im Vertrag, der bis 2023 läuft, fixieren. Gastdirigenten und Solisten wählt er selbst aus. „Wer kann denn besser als der Chefdirigent beurteilen, was für sein Orchester gut ist“, sagt er.

Einigkeit am Pult

Er lässt nur jene an sein Pult, die in seinem Sinn arbeiten, wie etwa den ehemaligen Chef der Dresdner Philharmonie Michael Sanderling. Im Oktober, gastiert der Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker Albrecht Mayer. Konzerte mit anderen Größen wie der Pianistin Martha Argerich sind in Planung. Mit Ehefrau Elina Garanča spielt er im November ihr nächstes Album ein. Als Amneris in Verdis „Aida“ debütiert sie voraussichtlich 2020 mit ihm und seinem Orchester im Opernhaus von Las Palmas, wo er einmal im Jahr eine Oper dirigiert.

Seinen Terminkalender könne er gut mit anderen Verpflichtungen vereinbaren, erklärt er. Chichon ist an Opernhäusern wie Paris und München gefragt. 2019 gastiert er an der New Yorker Met. Gespräche für Projekte an der Wiener Staatsoper führt er bereits mit dem künftigen Direktor Bogdan Rošcic. Und eine Oper im Jahr ist auf Gran Canaria im Vertrag. Eine Tournee ist in Planung. 2019 ist er mit seinem Orchester zum Neujahrskonzert in Baden-Baden geladen.

Wichtig ist ihm, dass ihm auch genug Zeit für seine beiden Töchter bleibt. Die Familie lebt in Malaga und Riga. Die Töchter sind sieben und vier Jahre. „Meine größte Angst ist, dass sie einmal, wenn sie Teenager sind, sagen, geh weg, du warst nie für uns da.“

„Wichtiger als meine ständige Anwesenheit ist, dass man mich auch spürt, wenn ich nicht hier in Las Palmas bin. Aber wenn ich da bin, steht meine Tür immer offen“, sagt er. „Man hat das Gefühl, dass wir immer zu ihm kommen können“, bestätigt Veronica Cruz, Englischhornistin und eine der jüngsten im Orchester. Domenico Pierini, Konzertmeister des Florentiner Maggio Musicale, der mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Carlo Mario Giulini und Riccardo Muti gearbeitet hat und bei Mahler am ersten Pult unterstützt, erklärt: „Maestro Chichon hat das Potenzial und das Herz, dieses Orchester auf höchstes Niveau zu bringen“.

Er ist nicht der einzige, der von auswärts kommt. Kontrabassistin Ilka Emmert hat sich von der Deutschen Radio Philharmonie beurlauben lassen, um hier zu musizieren. Sie und der Hornist José Zarzo sind sich einig: „Chichons Proben sind sehr intensiv, aber die Mühe lohnt sich.“ Das Konzert erbrachte den Beweis. Der Kurs in die Zukunft ist genommen.

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