Die letzte Anklage gegen die Teilnahmslosen

„Ich glaube, wir werden ein Buch bekommen“: José Saramago.
Sein unvollendeter Roman über die Rüstungsindustrie wird beim Lesen "fertig".

Der Portugiese José Saramago (1922–2010) wollte noch etwas hinterlassen, das dringend gebraucht wird fürs Nachdenken.

Noch einen Roman, der auf die Banalität des Bösen hinweist. Noch einmal einfache, große Literatur nach dem Grundsatz: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Warum gab es nie Streiks in den Waffenfabriken?

Die Frage beschäftigte den Nobelpreisträger von 1998 bis zuletzt.

Und auch das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: Im Spanischen Bürgerkrieg machte es den Republikanern Mut, als eine Granate der Faschisten NICHT explodierte – im Inneren des Geschoßes steckte ein auf Deutsch verfasster Zettel: "Kameraden: Fürchtet euch nicht. Die Granaten, die ich lade, explodieren nicht."

Letzter Satz

Am 16. September 2009, wenige Monate vor seinem Tod, notierte glücklich Saramago in seinem Tagebuch: "Ich glaube, wir werden ein Buch bekommen."

Nach "Die Reise des Elefanten", nach "Kain" und nach "Claraboia" ... der damals 87-Jährige war trotz seiner Krankheit ungemein produktiv.

Das Buch ist da, Saramago ist nicht mehr.

Unvollendet ist "Hellebarden" geblieben: Ein Fragment, aber groß genug, um beim Lesen die Richtung zu erkennen und um in den Köpfen vollendet zu werden.

Zumal Saramago im Tagebuch den Schluss verraten hat. Zwar waren nur rund 50 Seiten geschrieben, aber der allerletzte Satz, der stand für ihn früh fest:

Die Ehefrau von Artur Paz Semedo (wir kommen gleich auf ihn zu sprechen) wendet sich zum zweiten Mal von ihrem Mann ab – "Scher dich zum Teufel!"

Artur Paz Semedo ist Buchhalter in einer traditionsreichen Waffenfabrik, zuständig nur für leichte Waffen und Munition. Er hat kein Problem damit. Menschen sterben, weil sie sterben müssen, sagt der Zyniker.

Lieber befördern

Die letzte Anklage gegen die Teilnahmslosen
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Gern würde er sein Arbeitsgebiet auf Flugabwehrkanonen und Maschinengewehre ausweiten. Seine Frau Felícia ist deshalb ausgezogen. Man telefoniert nur noch miteinander. Sie bringt ihn aber dazu, im Archiv des Unternehmens zu stöbern: ob man in den 1930er-Jahren Waffen für Franco produziert hat?

Artur Paz Semedo wird in den alten Dokumenten schnell fündig.

Entscheidende Buchseiten bleiben leer. Aber er wird sich wahrscheinlich befördern lassen, zu den schweren Waffen. Er wird wohl auf den "moralischen Sinn des Lebens" pfeifen – der José Saramago so überaus wichtig war.

"Hellebarden" ist seine letzte Anklage gegen jene Leute, die an moralischer Apathie leiden.

KURIER-Wertung:

INFO: José Saramago: „Hellebarden“ Übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Mit Beiträgen von Roberto Saviano und Fernando Gomez Aguilera. Hoffmann und Campe. 144 Seiten. 20,60 Euro.

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