Der verloren gegangene Blick durch die Dachluke

Portuguese Nobel literature laureate Jose Saramago attends a news conference to promote the film "Blindness" in Madrid in this March 3, 2009 file photo. Saramago died in his home on the Spanish island of Lanzarote, aged 87, his Spanish editor Alfaguara said on June 18, 2010. REUTERS/Susana Vera/Files (SPAIN - Tags: ENTERTAINMENT OBITUARY HEADSHOT)
Abschiedsgeschenk des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago, drei Jahre nach seinem Tod.

Es müssen die Brombeerbüsche bei den Großeltern am Tejo-Ufer gewesen sein.

Die Schule war’s bestimmt nicht. Das Gymnasium konnte sich der Vater, ein Polizist, nicht leisten.

Es müssen Ereignisse wie jenes gewesen sein, die aus dem Mechaniker José Saramago einen Schriftsteller gemacht haben: Jedes Jahr im Frühling verpfändete Mutter die Bettdecken, um Geld für den Sommer zu haben.

30 war der Portugiese, als er „Claraboia“ schrieb.

Keine Antwort

Was so viel bedeutet wie eine offene Dachluke, durch die Licht fällt, und dann sieht man in ein Arbeiterwohnhaus in Lissabon, 1952:

Fünf Stockwerke Armut, Neid, Ehequalen, Prostitution, auch lesbisches Verlangen ... und man folgt, in der Wohnung eines alten, weisen Schusters, der Diskussion: Ist es an der Zeit, das Land und das Leben auf Liebe zu bauen – oder muss wohl oder übel Hass regieren?

1953 schickte Saramago sein Manuskript an einen Verlag. Er bekam nie eine Antwort.

Das wird wohl damit zu tun haben, dass es während der Salazar-Diktatur (bis 1974) kein idealer Stoff war.

Im Schuster könnte man dessen realen Kollegen Bandarra ( 1556) erkennen, und in der Inquisition, die diesen Dichter und Philosophen verhaften ließ, die aktuellen Machthaber Portugals.

Als der Verlag 1999 übersiedelte, fand man den Text.

Da war Saramago eine Berühmtheit, er war schon Literatur-Nobelpreisträger – und nun bat man untertänigst darum, das Werk veröffentlichen zu dürfen

Nein.

Vielleicht wegen des noch immer nicht verflogenen Ärgers über die ausgebliebene Reaktion damals.

Vielleicht aber auch, weil „Claraboia“ so anders ist.

Nahezu Un-Saramagonisch: Hier gibt es noch Doppelpunkte und Rufzeichen, Fragezeichen und Anführungszeichen, die Sätze sind kurz, und kein surrealistisches Element kommt vor.

Die Sprache ist noch nicht kreativ, sondern unauffällig schön.

Der verloren gegangene Blick durch die Dachluke
Seiner Ehefrau erlaubte der Schriftsteller, nach seinem Tod mit dem Manuskript nach Belieben zu verfahren, und sie verkauft das Buch jetzt als „letztes Geschenk“ an die Leser.

Lustig: Pilar del Río ist Spanierin.

In „Claraboia“ zitierte Saramago den portugiesischen Spruch, wonach aus Spanien nur kalte Winde und schlechte Ehen kommen ...

Der 60 Jahre alte Roman besticht durch die saubere, aber düstere Atmosphäre. Er huscht von Wohnung zu Wohnung wie ein Mäuschen und kehrt nach Rundgängen immer wieder zu den einzelnen Familien zurück.

Die Geschichten sind folglich zerhackt, alle werden aber brav bis zum Ende erzählt.

Ständig staunt man, dass José Saramago schon in den 1950er-Jahren solche Charaktere schaffen konnte – die er in späteren Büchern wieder auftauchen ließ.

Vor allem starke Frauenfiguren hat er sozusagen früh beherrscht.

ER war das Geschenk.

Claraboia“ nimmt man als Zugabe sehr gern zur Kenntnis.

KURIER-Wertung: **** von *****

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