Musik inmitten der Proteste
Ich habe geglaubt, ich träume schlecht.“
Der österreichische Dirigent Sascha Goetzel hat den Beginn der Proteste in Istanbul hautnah miterlebt. Der Chefdirigent der Borusan Istanbul Philharmonie hatte von seinem Hotelzimmer aus direkten Blick auf den Gezi-Park. Und hat so vergangene Woche die ersten Polizeiaktionen gegen die Demonstranten mitverfolgen können. „Um drei in der Früh bin ich aufgewacht, weil sie Rauchbomben geschossen haben“, schildert Goetzel im KURIER-Gespräch.
Es traf auch Unbeteiligte: „Unser Büro ist sehr nah. Unsere Administration ist am Samstag auf die Straße gegangen, und ist von der Polizei direkt mit Pfefferspray attackiert worden, ohne dass sie irgendwelche Aktivisten wären.“ Goetzel hat die Ereignisse mitgefilmt und via Facebook veröffentlicht. Er beschreibt die Protestierenden als „eine zu 99 Prozent friedliche Gruppe: Schwangere, Großmütter mit ihren Enkeln. Es gibt ein unglaubliches Miteinander, es ist eine große Gemeinschaftsbewegung.“
Künstlerprotest
Den Protesten haben sich auch zahlreiche Künstler angeschlossen, schildert Goetzel. Das sei nicht zuletzt den jüngst geäußerten Plänen der Regierung Erdogan geschuldet, massiv bei Kulturförderung kürzen zu wollen. „Der Rückzug der Regierungen aus der Subventionierung in Westeuropa ist schrecklich genug, aber trotzdem geordnet. In der Türkei jedoch wurde ein Dekret erlassen, dass ab nächstem Jahr alle Orchester bis auf zwei nur mehr 30 Prozent der Subvention bekommen sollen. Und wenn die Orchester nicht fähig sind, den Betrag mit privaten Sponsoren aufzufüllen, dann müssen sie aufgelassen werden. Das ist noch nicht beschlossen. Aber innerhalb von sechs Monaten könnte es sein, dass ungefähr tausend Leute vor dem Existenzminimum stehen.“ Goetzel schildert, dass auch zwei Musiker bei den Protesten schwer verletzt worden sind.
Vereinigung
Eine „Auswahl vieler Musiker verschiedenster Orchester, die gerade in Istanbul waren“, kam zusammen und spielte beim Flashmob-Konzert mit. Gegeben wurde „Koçekçe“ von Ulvi Cemal Erkin, der der Gruppe der „Fünf“ (die wichtigsten türkischen Komponisten des 20. Jahrhunderts) angehört hat. „Das Stück beschreibt eine Reise durch die Türkei, von Ost-Anatolien bis Istanbul, also eine Vereinigung aller Türken durch das Tanzen“, schildert Goetzel. „Die Reaktion war beeindruckend, es gab riesigen Jubel. Das Publikum hat uns nicht weggelassen, wir mussten es noch einmal spielen. Danach habe ich dann gesagt: Es ist genug.“ Denn er selbst wolle als Künstler und nicht als „politischer Aktivist“ auftreten. „Ich möchte für meine Musiker da sein.“ In den Dienst einer Sache für die Menschlichkeit stelle er sich gerne, der Rest sei eine politische Frage.
Heute, Samstag, fliegt Goetzel wieder nach Istanbul. Eigentlich hätte sein Orchester bereits am vergangenen Dienstag das Istanbul Music Festival eröffnen sollen. Aber „wenn Menschen verletzt werden und auch getötet, dann kann man keine Festival-Eröffnung spielen“, sagt Goetzel. Nun ist die Eröffnung für Sonntag vorgesehen. „Wir werden sehen.“
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