Ist es Trost, dass nur der Arm verloren ist?
Am Ufer“ ... wovon? Vom Sumpf, vom Leben, von der Geschichte, vom Müll.
Am Ufer mit Blick auf Wohnsiedlungen im Rohbau, mit Blick auf leere Autobahnen, leere Einkaufszentren, mit Blick auf Klodeckel und Ziegelhaufen, mit Blick auf alles, das auf Sand gebaut war; und auf die Wasserskiläufer, denn Reiche gibt es interessanterweise noch immer.
Nach Platzen der Immobilienblase 2008 sitzen ein paar Spanier in einer Meeresgegend „am Ufer“ im Wirtshaus und spielen Karten.
Esteban ist auch dabei. Er ist mit seiner Tischlerei soeben pleite gegangen. Die Männer um ihn herum wissen, dass sie arbeitslos geworden sind. Sie wissen noch nicht, dass Esteban ihnen keine Abfertigung zahlen kann.
Alle reden, halten innere Monologe und lautstarke Klagelieder. Sie sind klug. Man wird aus dem Mund eines Vaters hören, dass er seinen Kindern keine Schulverpflegung mitgeben kann – außer eine Flasche, die füllt er mit Leitungswasser, dann können seine Kinder sagen: Das ist Mineral ...
Ein anderer Kartenspieler sagt: Und wenn ich einen Arm verlieren würde, so findet sich garantiert jemand, der mich damit tröstet, immerhin habe ich noch meinen Kopf, es könnte also alles noch viel schlimmer sein.
Niemand aus dieser Runde ist nur gut oder nur schlecht, jeder trägt Mitschuld, aus manchen spricht Neid, und jeder ist „ich“ – sagt der bekannte spanische Schriftsteller Rafael Chirbes: „Ich stecke in allen Figuren.“
Chirbes lebt zurückgezogen mit zwei Hunden und zwei Katzen im Gebiet Alicante. Er ist 64 Jahre alt. Ein sozialkritischer Autor.
Notwendig
Im vorangegangenen Roman „Krematorium“ hatte er den Bauboom an der Costa Blanca geschildert. „Am Ufer“ ist die logische Fortsetzung. Das Fest ist zu Ende. Mehreren Zeitungen wählten „Am Ufer“ zum spanischen Buch des Jahres 2014 gewählt.
Es hat eine Wucht, dass man zunächst davor zurückweicht. Will man sich diesem notwendigen Stück Literatur nähern?
Da sind kaum Absätze, manche Satzzeichen fehlen, manche Sätze gehen über mehr als eine Seite – die Menschen haben viel zu sagen. Ungebremst führen sie Klage.
Es ist bitter. Chirbes ist kein Optimist. Aber es gibt im letzten Kapitel „Exodus“ eine Stelle, die lautet:
„Offensichtlich leben wir weniger verhurt, haben das Gaunerhafte abgelegt, aber vielleicht noch einen Kater davon. Neue Werte liegen in der Luft, franziskanische Tugenden: Man schätzt wieder die Langsamkeit, den geruhsamen Abendspaziergang, der auch gut fürs Herz ist, selbst das Armselige sieht man mit anderen Augen.“
KURIER-Wertung:
INFO: Rafael Chirbes: „Am Ufer“ Übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlang Antje Kunstmann. 400 Seiten. 25,70 Euro.
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