Künstlerin Hito Steyerl: "Das Verständnis von Realität ist erschüttert"

2017 in wurde sie zur "einflussreichsten Person der Kunstwelt" gekürt - als Künstlerin und Theoretikerin, die nah am Puls technologischer Entwicklungen steht und diese ebenso präzise wie pointiert kommentiert, ist Hito Steyerl jedoch schon viel länger eine Galionsfigur. Im MAK zeigt Steyerl bis 11. 1. eine Werkschau, darunter die Videoinstallation "Mechanical Kurds", die das Zusammenspiel von KI, Repression und Ausbeutung thematisiert.
KURIER: In Ihrem neuen Werk „Mechanical Kurds“ bauen Sie auf dem Begriff des „Mechanischen Türken“ auf. Das ist der Name eines Schach-Automaten aus der Zeit Maria Theresias, bezeichnet aber auch eine Amazon-Plattform, die prekäre Arbeit vermittelt. Warum haben Sie sich entschlossen, das als Kristallisationspunkt für Ihre Arbeit zu nehmen?
Hito Steyerl: Ja, das war ein Schach-Automat, in dem, wie sich später herausstellte, ein Zwerg versteckt war, der eigentlich die Fäden zog. Amazon hat diesen Titel relativ zynisch appropriiert für die Clickworker, die sie überall auf der Welt um sehr wenig Geld angestellt haben. Und ich habe mich darauf konzentriert, tatsächlich Leute zu finden, die diesen Job machen, und zwar in mehreren Flüchtlingslagern in Südkurdistan, das heißt im Nordirak. Sie haben Objekte auf Fotos identifiziert und eigentlich künstlichen Intelligenzen geholfen, automatische Bilderkennung zu betreiben. Man muss dabei Boxen um bestimmte Objekte herumziehen und mit bestimmten Begriffen markieren.
Ist das auch ein militärisches Unterfangen?
Ja. Die Technologien werden umgehend vor Ort eingesetzt, sie werden in Drohnen eingebaut. In meinem Film geht es um einen Fall, wo zwei Autos mit TV-Journalistinnen gezielt von einer türkischen Drohne angegriffen wurden. Zwei Journalistinnen sind gestorben. Und der Überlebende erzählt im Film von diesem Ereignis.

Verblüffend ist, dass man solche Strukturen und Ereignisse in Gegenden findet, in denen man sie überhaupt nicht vermuten würde. Gibt es sowas wie eine Peripherie in der digitalen Welt überhaupt noch?
Peripherie heißt hier einfach, dass Arbeit schlechter bezahlt wird. Wobei ich glaube, dass diese Peripherie auch die anderen Gebiete übernehmen wird. Denn die Automatisierung kognitiver Arbeiten breitet sich derzeit stark ins Zentrum aus.
Welche Logik steckt da dahinter? Obwohl die Rhetorik rund um KI stets den Fortschritt betont, lande ich immer wieder bei Metaphern wie dem Bergbau, der auf den Sedimenten der Kultur nach Öl bohrt und extrahiert.
Das ist wie mit dem Huhn und dem Ei, das weiß man am Schluss auch nicht genau, wer am Anfang war, die kapitalistische Logik oder die technologischen Prozesse. Ja, es ist eine Extraktion zweiter Ordnung, Extraktion aus Daten, die aber auf Extraktionsprozessen aufsetzt, die ganz traditionell sind. Ölgewinnung, Gaspipelines und so weiter - all das braucht es ja auch, um die digitale Industrie überhaupt mit Energie zu versorgen. Es ist ein Fakt, dass jetzt schon im Hinblick auf den kommenden KI-Boom riesige Investitionen in Energiegewinnungsanlagen getätigt werden.
Ist dieser Zusammenhang der Tech-Oligarchenklasse vielleicht mehr bewusst als der Allgemeinheit? Fehlt da auch eine gewisse Art von Aufklärung?
Ja, ich glaube schon, dass Leute bislang noch nicht wirklich verstanden haben, wie sehr das sie selbst betreffen wird. Vielleicht schleichend, vielleicht nicht auf einmal, aber ich glaube, dass sich die Berufswelt und auch viele Alltagsprozesse ziemlich stark ändern werden über die nächsten zehn Jahre. Und dass das sehr viele Leute sehr viel mehr betreffen wird, als sie das bis jetzt denken. Vor allem auch, weil sich diese ganzen Prozesse ja auch gegenseitig verschärfen und radikalisieren. Also wenn jetzt KI zum Beispiel von Tech-Autokraten in den USA für Propaganda und Desinformation verwendet wird und gleichzeitig eine Energiekrise heraufbeschworen wird und gleichzeitig die Kriege eskalieren, dann können sich diese ganzen Prozesse auch gegenseitig hochschaukeln - und das tun sie im Moment auch.

Was ist Ihr Ansatz, als Künstlerin an diese Dinge heranzugehen? Diese Rolle der Kunst als Mahnerin ist ja oft bemüht worden, aber es ist die Frage, ob sich die Leute, die diese Entwicklungen vorantreiben, einen Deut darum scheren.
Ja, wahrscheinlich nicht. Aber um die geht es ja wahrscheinlich auch nicht. Meine letzten Arbeiten sind auch viel stärker wieder dokumentarisch als die früheren. Es geht mir schon darum, auch die Ehre der Wirklichkeit zu retten, mit meinen bescheidenen Mitteln.
Aber ist die Kunst zumindest in ihrer Form als Statussymbol für die herrschende Klasse noch irgendwie bedeutsam?
Sie war ziemlich bedeutsam in den Zehnerjahren - da war Kunst eine globale Asset Class, die wirklich etwas hergemacht hat. Ich glaube, mittlerweile ist das nicht mehr so. Es gibt jetzt mehrere Kunstwelten, die sich regional neu zentrieren und jeweils ihren eigenen Kanon, ihren eigenen Markt entwickeln. Das globale Gespräch darüber ist nicht abgebrochen, aber ist sehr stark zurückgegangen, und damit auch die Rolle der Kunst als Statussymbol.
Dass die Kunst in die Pflicht genommen wird für politische Ziele, ist das ein globales oder ein eher westliches Thema?
Ja und nein - ich denke, an anderen Orten wird sie eben anders instrumentalisiert. In den Golfstaaten gibt es Bestrebungen, um Kunst als Soft-Power-Instrument zu etablieren, als Unterkategorie von E-Sports oder Formel 1 oder so etwas. In China gibt es das auch einen starken Versuch, einen eigenen nationalen Gegenwartskunstkanon zu etablieren, wobei das Bestreben durch Covid sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Da müssen derzeit sehr viele Museen schließen, da gibt es einfach das Geld nicht. Das ist regional ganz verschieden, aber Kunst wird überall auf die eine oder andere Weise instrumentalisiert.
Wenn es ein Ziel ist, die Ehre der Wirklichkeit zu retten - wo kann man da die Wirklichkeit denn noch ausgraben?
Ich glaube, es wird völlig unterschätzt, wo die Wirklichkeit sich überall abspielt. Die Aufmerksamkeit ist so stark kolonisiert von den Tools und von den Plattformen, dass die nicht mehr wirklich auffällt. Unsere Bewegungen sind ja schon darauf geeicht, alle fünf Minuten das Telefon herauszuziehen und dann zu schauen, welche neuen Bilder sich da wieder angesammelt haben.
Was dominiert heute unsere Perspektive auf den Krieg?
Eben die Fragmentierung. Sowohl im Golfkrieg, im ersten als auch im zweiten, gab es noch eine Art von Massenmedien, die mehr oder weniger alle erreicht haben, und es war nicht möglich, sich dieser Darstellung - ob das jetzt Propaganda war oder auch nicht - komplett zu entziehen. Das ist jetzt absolut möglich. Man kann sich den Krieg in unendlich verschiedenen Varianten und Perspektiven zu Gemüte führen, und die eine hat mit der anderen überhaupt nichts mehr zu tun und muss auch nicht mehr damit überlappen. Diese Bubble-Ansicht des Krieges, die ist, glaube ich, sehr neu. Und auch, dass Plattformen in der Lage sind, eigene Realitäten zu erzeugen und zu erhalten.
Was ist zu tun, um der Blase zu entfliehen?
Ich beschreibe eine Idealform, die es so nie gab. Aber die gemeinsame Grundlage eines Verständnisses davon, was Realität ist, ist erschüttert. Aber ich habe eine Vorstellung dessen, was eine Öffentlichkeit sein könnte. Über die letzten 30, 40 Jahre gab es eine sehr starke Privatisierung des öffentlichen Diskurses. Die Idee, dass Information eine Ware ist und dass ihr Wert durch ihre Popularität bestimmt wird - da ist schon ein Denkfehler drin. Das führt dann eben in diese fragmentierten Öffentlichkeiten hinein, wo Information nicht mehr danach beurteilt wird, ob sie faktengetreu ist, sondern ob sie beliebt ist und viel geklickt wird.
Wenn die Tech-Barone durch die Kunst nicht zu erreichen sind – sind sie dann anderweitig zu erreichen?
Das Europäische Datenschutzgesetz ist natürlich eine Einschränkung ihrer Reichweite, es mag unzureichend sein, aber es ist zumindest ein Versuch. Ob es jetzt Regulierung ist oder einfach Verweigerung - es gibt alle möglichen Varianten, wie man es zumindest versuchen kann.
Welche Schienen wollen Sie selbst in der näheren Zukunft verfolgen?
Gute Frage. Ich plane das nicht so. Wir werden definitiv weitermachen, auch an der Uni, und versuchen, die Entwicklungen im technischen Bereich kritisch weiter zu verfolgen - nicht nur in der KI, aber zum Beispiel auch im Quantencomputing. In Bezug auf meine eigene Kunstproduktion ist es so, dass mich diese Entwicklungen in der Automatisierung der Bilderproduktionauch ganz stark selber betreffen. Ich muss mir überlegen, wie ich selbst darauf reagiere.
Die Textproduktion ist für mich als Schreibenden ebenfalls Dauerthema. Aber originäre und originelle Gedanken zu haben, sehe ich ja doch noch als eine der Bastionen dessen, was noch nicht so ganz automatisierbar ist.
Also ich fürchte, vielleicht dauert es noch ein kleines bisschen, aber es ist durchaus machbar für dieses Thema, das zu reproduzieren. Ich sehe da kein grundsätzliches Problem, und vor allem die Geschwindigkeit spielt eine Rolle. Bis ich mit meinem langsamen Gehirn mal in die Lage komme, überhaupt irgendeinen Gedanken auszusprechen, bis dahin ist das Thema schon wieder vorbei. Das sehe ich als eines der Hauptprobleme. Oder bis ich so ein Video zusammenkriege. Das dauert einfach Monate, Monate. Da werden Millionen von Mikroentscheidungen getroffen. Ich glaube nicht, dass ich da noch lange hinterherkomme mit dieser Langsamkeit.
Sehen Sie dann Potenzial für ganz langsame Medien, Ölmalerei oder so etwas?
(Lacht) Ja, das sind Medien, die weniger diesem Druck unterliegen, zumindest zeitlich. Aber da müsste ich nochmal ganz von vorne anfangen, das wäre auch eine Herausforderung.
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