Ingeborg Bachmann: Schmerzen zum Start
Es ist das erste Mal, dass Aufzeichnungen von Ingeborg Bachmann, die in Wien in der Nationalbibliothek unter Verschluss sind, veröffentlicht werden.
Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit, aus den 1960er-Jahren: Der Schweizer Max Frisch hatte sich 1962 von ihr nach gemeinsamen Jahren in Rom getrennt – "Es war Mord", sagte Ingeborg Bachmann dazu, und es folgten mehrere Klinikaufenthalte.
Die Geschwister der Klagenfurter Welt-Dichterin gestatteten, dass die Sperre – eigentlich bis 2025 – aufgehoben wurde.
Und es ist damit zu rechnen, dass auch die Briefe an Max Frisch schon früher in der auf mindestens 30 Bände angelegten Werkausgabe zu finden sein werden.
Kein Geschäft
"Bei ihr ist alles Literatur", hat der Gesamt-Herausgeber Hans Höller in einer Pressekonferenz in Berlin auf kritische Journalistenfragen von wegen Diskretion bzw. Persönlichkeitsschutz beschwichtigend geantwortet.
(Nun ist also eine Gebärmutter-Operation bekannt, 43 Jahre nach Ingeborg Bachmanns Tod; und es ist noch dazu eine VERMUTETE Operation.)
Der pensionierte Germanist der Salzburger Universität hätte demnach schon jetzt die Erlaubnis, die Briefe zu editieren. Er sehe sich bloß im Moment nicht dazu in der Lage ... weil sie so "dramatisch, so herzzerreißend" sind ...
30 Bände in 20 Jahren, vielleicht 40 Bände, Bekanntes und Unbekanntes, das ist der Plan. Die Verlage Suhrkamp und Piper kooperieren. Ein großes Geschäft sei das nicht, wird betont; und nicht angezweifelt. Das Bundeskanzleramt unterstützt das Riesenprojekt, und nur deshalb könne der Preis pro Buch bei 35 Euro liegen.
"Male oscuro" (das dunkle Übel) ist ein guter, schmerzhafter Start. Ingeborg Bachmanns Traumprotokolle und -analysen, wenn sich z.B. ihr Vater und Max Frisch vermischen, richteten sich zwar an einen bestimmten Psychotherapeuten in Baden-Baden.
Aber sie scheinen "Grund und Boden" vieler ihrer späteren Werke zu sein.
70 Seiten unbekannter Texte stehen 130 Seiten Kommentare zweier Literaturwissenschaftlerinnen der Universität Verona gegenüber.
Freilich dürfen nicht-literaturwissenschaftliche Leser fragen, ob hier nicht etwas übertrieben wird.
Im Zentrum von "Male oscuro" angelangt, wird man allerdings nichts fragen. Denn dort steht etwas für alle. Bachmann beabsichtigte offensichtlich, vor Ärzten eine Rede zu halten. (Sie tat es nicht.) Ihre Erfahrungen als Patientin sollten dazu führen, dass EKG und EEG und 100 andere Untersuchungen nicht die lebensnotwendige Frage ersetzen: Warum geht’s Ihnen so schlecht?
Zitat aus ihrer nie gehaltenen Rede:
Meine Herren, ich bitte Sie: sagen Sie den Internisten auf der ganzen Welt, es könnte sein, es könnte immerhin sein, daß ein Mensch nicht nur Erstickungsanfälle oder Kopfanfälle hat – es könnte doch sein, daß er einen Therapeuten braucht, und zwar sofort.
Ingeborg Bachmann:
„Male oscuro“
Herausgegeben von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni. Suhrkamp/Piper.
259 Seiten. 35 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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