"In der Zeitung gibt es immer nur Räuber"

Unter der Leitung des Grazer Germanisten Herbert Fussy wuchs das Österreichische Wörterbuch von 274 auf 928 Seiten an
Herbert Fussy betreute vier Jahrzehnte lang das Österreichische Wörterbuch. Nun geht er schweren Herzens in Pension.

KURIER: Wie wird man eigentlich zum obersten Beobachter des österreichischen Deutschs?

Herbert Fussy: Ich habe in Graz Germanistik studiert und wollte eigentlich in einer Bibliothek arbeiten. Aber das ging schief. Ich fuhr mit dem Zug nach Wien – und landete beim Österreichischen Bundesverlag. Dass ich Lexiograf werden würde, hab’ ich nicht geahnt. Aber mein damaliger Chef steckte mich in die Wörterbuchredaktion. Mein Bestreben war: Ich möchte genauso gut wie der Duden sein – aber eben österreichisch. Dazu brauchte ich die Bewilligung der Umfangserweiterung. Mit der Zeit wuchs das ÖWB von 274 auf 928 Seiten an.

Weil neue Wörter hinzukamen.

Ja, der Wörterschatz nimmt permanent zu. Es gibt neue Dinge, neue Tätigkeiten, neue Entwicklungen: Ich "linke", wenn ich einem "Link" setze, und ich "like".

Die Gründung des ÖWB wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen. Um sich von Deutschland abzugrenzen?

Ja. Schon in der Manuskript-Fassung Ende der 1940er-Jahre gab es Vorschläge für österreichische Ausdrücke. Sagt man "der Monat" oder "das Monat"? Es geht darum, was hier Standard ist, also die Ausdrucksform, die die Mehrzahl benutzt, die verständlich ist und von allen anerkannt wird. Dieser Standard ändert sich andauernd. Es war daher wichtig, jene Wörter aufzunehmen, die für uns typisch sind, also Austriazismen wie "Matura". Schon bald bin ich aber draufgekommen, dass die "Tomate" nicht piefkinesisch ist. Und in Tirol sagt kein Mensch "Erdäpfel". Was also ist Standard? Man muss auch die sprachlichen Großlandschaften beachten! Und die Wörter wandern! Die "Käferbohnen" z. B. oder das "Verhackerte". Leider wandert mehr vom Norden in den Süden als umgekehrt.

Hat das ÖWB eigentlich amtlichen Charakter?

Wir beantworten die Frage, wie man ein Wort wie "verwordakeln" schreibt. Wenn es im ÖWB steht, dürfen die Schüler es schreiben. Überspitzt formuliert: Wir geben dem Benutzer das Recht, seine Sprache zu verwenden – auch bei Schularbeiten.

"In der Zeitung gibt es immer nur Räuber"
Dr. Herbert Fussy , Österreichischen Bundesverlag, Interview, Portraits
Aber im ÖWB steht auch das Wort "Neger". Darf man "Neger" verwenden?

Selbstverständlich. Man darf ja auch "Depp" und "Arsch" verwenden. Ein Wort ist neutral. "Neger" kommt aus dem Lateinischen und heißt "schwarz". Es war jahrhundertelang ein normaler Ausdruck. Aber wenn man es als Schimpfwort verwendet, ist es verwerflich. Wenn die Gemeinschaft ein Wort verfemt, dann muss man das zur Kenntnis nehmen. Die Political-Correctness-Debatte und die Gender-Debatte bedeuten große Umwälzungen. Es gibt aber noch keine einheitliche Sicht – auch nicht über das Binnen-I.

Was halten Sie von geschlechtsneutralen Partizipial-Konstruktutionen wie "Studierende"?

Sie vereinfachen in vielen Fällen die Sache. Die Sprache wird jedoch nicht verständlicher dadurch. Es gibt auch Auswüchse beim Gendern: Ist die Studienführerin sinnvoll? Die Fleischwölfin? Die UKW-Senderin? In der Zeitung gibt es immer nur Räuber, aber nie Räuberinnen. Ist das nicht ungerecht? Die Deutschen haben es in der Frage gut: Wenn sie gewählt haben, haben Frauen und Männer gewählt. Und wenn die Österreicher gewählt haben? Dann nur die Männer?

Wird das österreichische Deutsch überleben können?

Ich war der Meinung, dass es unsterblich ist. Aber ich bin zum Zweifler geworden – wenn ich meinen Enkeln zuhöre, die fünf und acht Jahre alt sind. Sie sprechen so, dass man glauben könnte, sie leben in Hamburg. Es ist chic, so zu sprechen wie in manchen Fernsehsendungen. Sie haben einen ungeheuren Einfluss. Früher sagte man in Österreich "bisher", jetzt aber ist es fesch, "bislang" zu sagen. 30 Jahre lang habe ich als Tennisspieler "das Tie-Break" gesagt; jetzt sagen die Sportmoderatoren "der Tie-Break".

Früher sagte jeder in Österreich "das eMail".

Aber es gibt eben zehn Mal so viele Deutsche. Und nun überrollt uns "die eMail". Ganz besonders leide ich unter dem Wort "lecker". Wir hatten "lecker" im ÖWB früher mit der Erklärung "besonders Norddeutsch", dann "Deutsch", dann "ursprünglich Deutsch". Heute können wir nichts mehr dazuschreiben. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass "lecker" heimisch geworden ist.

"Tschüss" ist das verbreitetste Grußwort – und "lecker" das verbreitetste Wort für "es schmeckt gut". Vor einiger Zeit gab es im Falter ein Interview mit dem Wienerlied-Musiker Roland Neuwirth. Er kritisierte, dass das Wort "lecker" ins ÖWB aufgenommen wurde: "Hätte mein Großvater das gehört, er hätte eine Bombe in die Redaktion geschmissen." Ich glaube, nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo sollte man mit dem Bombenwerfen auf Redaktionen vorsichtig sein. So weit darf Fanatismus nicht gehen! Natürlich ist es positiv, dass man sich für die eigene Sprache, den eigenen Dialekt interessiert. Aber das Gegenteil ist der Fall, wenn man damit andere unterdrückt.

Zur Person: Hemingway-Fan und Jazz-Musiker

Mit der Drucklegung einer neuen Ausgabe des Österreichischen Wörterbuchs begann für Herbert Fussy, Jahrgang 1950, die Arbeit an der nächsten: Immerzu war der Grazer Germanist auf der Jagd nach Wörtern und Wendungen, die er noch nicht gehört hatte. Gewissenhaft prüfte er sie auf ihre Relevanz. Für die 43. Auflage, die 2016 erscheinen wird, konnte er 2000 neue Wörter ausfindig gemachen: von Kanzlertamtsminister über Vleisch und Pizzaschnitte (im Sinn von „Pflug“) bis gelingsicher. Der geistreiche Jazz-Musiker, der auf seinen Reisen den Spuren von Ernest Hemingway folgt,
geht Ende März in Pension.

Kommentare