ImPulsTanz: Präzise wie ein Uhrwerk, geschmeidig wie ein Gepard
Zum Auftakt des Festivals begeisterte „RELATIVE CALM“ von Lucinda Childs und Robert Wilson
09.07.23, 17:49
Von Silvia Kargl
Mit „RELATIVE CALM“ begann am Freitag der Indoor-Reigen von außergewöhnlichen Aufführungen bei ImPulsTanz im Volkstheater. Wobei es gleich mehrere Faktoren gibt, die dieses im Vorjahr uraufgeführte Stück beispielhaft für die Bedeutung dieser Wiener Plattform für zeitgenössischen Tanz erscheinen lassen.
An erster Stelle ist dabei die persönliche Mitwirkung der 83-jährigen Tanzikone Lucinda Childs zu nennen, die mit ihrer vorwiegend formalen Interpretation den postmodernen Tanz prägte. Waren es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Gegensätze, die zwischen klassischem Ballett und Modern Dance standen, so steht Childs an der Spitze der Brückenbauer.
Childs erscheint als Solistin in zwei Teilen von „RELATIVE CALM“. Es ist kein Zufall, dass sie dabei aus den Tagebüchern Vaslav Nijinkys zitiert, der als klassisch ausgebildeter Tänzer der Ballets Russes am Beginn des 20. Jahrhunderts die Choreografie revolutionierte. Im Hintergrund sind Videos von einem jagenden Gepard und fliehenden Wasserbüffeln zu sehen, alle in höchster körperlicher Anspannung.
Legenden live
Für die Inszenierung und Ausstattung sorgt mit dem 81-jährigen Robert Wilson eine Theaterlegende. Er und Childs arbeiten seit der Uraufführung von Philipp Glass’ Oper „Einstein on the Beach“ 1976 zusammen.
1981 entstand die erste, damals bereits vierteilige Ausgabe von „RELATIVE CALM“. Daraus steht „Rise“ zu Musik von Jon Gibson auch am Beginn der neuen Fassung. Wiederum exemplarisch für Childs und Wilson – geht es doch um die Beziehung von Raum und Zeit, ausgedrückt in Bewegungen und Objekten.
Die Ausrichtung der Körper im Raum, minimale Veränderungen, Drehungen, die choreografische Gleichstellung der Geschlechter werden von den Tänzerinnen und Tänzern des von Michele Pogliani geleiteten MP3 Dance Project präzise wie ein Uhrwerk umgesetzt. Um persönlichen Ausdruck oder individuelle Rolleninterpretation geht es in diesem Theater nicht. Auch nicht im abschließenden Teil zu John Adams’ „Light over water/Teil 3“ von 1985. Historisch gesehen stellt sich eine Nähe zu den Bauhaustänzen Oskar Schlemmers aus den 1920er-Jahren ein.
Konzept und Struktur
Welche Rolle bei Childs und Wilson Konzept und Struktur spielen, zeigt sich in der neu choreografierten und inszenierten „Pulcinella-Suite“, die Igor Strawinsky 1922 aus dem zwei Jahre zuvor durch die Ballets Russes uraufgeführten Ballett „Pulcinella“ zusammenstellte. Mit diesem Werk, das in den Formen auf spätbarocke Kompositionen zurückgreift, irritierten der Komponist und sein Ausstatter Pablo Picasso den Auftraggeber Serge Diaghilev dermaßen, dass es im Vorfeld zu heftigen Auseinandersetzungen kam.
2023 greifen Childs und Wilson nicht nur diese von Strawinsky verfremdeten barocken Formen auf, wobei Childs ihr eigenes Bewegungsvokabular als Basis verwendet. Durch eine zentrale Pulcinella-Figur entstehen wie bei den Ballets Russes Bezüge zur Commedia dell’Arte, aber mit zeitgenössischen Mitteln. Childs oft als kühl und formal empfundene Tanzsprache ist auch 60 Jahre nach ihren Anfängen ein work in progress, diesmal weniger abstrakt.
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