Die Vernunft des Menschen ist eine Forderung
Der Schrulligkeit seines Lebens zum Trotz (mehr dazu hier, oder im unteren Abschnitt) waren Kants Ideen alles andere als borniert. Im Gegenteil: Seine Forderungen waren mutig und revolutionär. 231 Jahre nach seiner berühmten Antwort auf die selbst von ihm gestellte Frage "Was ist Aufklärung?” ist seine Philosophie brandaktuell:
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. 'Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!' ist also der Wahlspruch der Aufklärung." (aus dem Essay "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", 1784)
Der Wahlspruch erinnert daran, worauf unsere Kultur gebaut ist: auf Vernunft. Und genau darum geht es Kant. Vernunft ist eine Forderung und keine Eigenschaft, postulierte der Philosoph. Sein Begriff der Vernunft kreist um das Paradigma, selbstverantwortlich zu handeln. Eine zentrale Rolle in der aktuellen Auseinandersetzung mit Kant spielt sein Konzept der Ethik.
Der KURIER sprach mit Univ.-Prof. Dr. Kurt Walter Zeidler vom Institut für Philosophie in Wien.
KURIER: Was macht die Aktualität Kants aus?
Walter Zeidler: Die Aktualität besteht gerade in dem, was in gegenwärtigen Ethikdiskussionen keine Rolle spielt: Die Pflicht des Menschen gegenüber sich selbst.
Was macht diesen "Pflicht-Menschen" aus?
Im Zentrum der Kantischen Überlegungen steht eine Vernunft, die nicht als irgendein Merkmal des homo sapiens zu verstehen ist, durch das sich das Gattungswesen Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet. Sie handelt sich um eine Forderung, die der Mensch in seinem theoretischen Erkennen und in seinem praktischen Handeln erfüllen soll.
Und worin besteht die von Ihnen angesprochene Forderung inhaltlich?
Kant zieht schlicht die Konsequenz aus der unabweisbaren Einsicht, dass der Mensch nicht schon von Natur aus ein vernünftiges und moralisches Wesen ist. Der Mensch ist 'animal rationabile’, also ein vernunftfähiges Wesen. Vernunft ist keine Tatsache, sondern eine Forderung.
Das bedeutet, dass wir ständig aktiv unsere Bestimmung erfüllen müssen - oder sollen?
Wenn das Natur- und Gattungswesen Mensch zur Vernunft und Moralität nur befähigt ist, bedeutet dies, dass der Mensch sich vernünftig und moralisch orientieren kann. Und sofern er nicht auf die Stufe des Tieres zurückfallen will, tut er das auch.
Zur Moral ist der Mensch offenbar nicht verpflichtet.
Doch, aber auf eine andere Weise. In Kants praktischer Philosophie kristallisiert sich seine Überlegung zu einem 'Begriff einer Pflicht gegen sich selbst'. Das entspricht dem Sollens- und Forderungscharakter der Vernunft.
Dieser "Forderungscharakter" ist vor dem Hintergrund vielerorts versagender politischer und sozialer Systeme aktueller denn je. Man denke an Menschen, die selbstlos ankommenden Flüchtlingen an Bahnhöfen und ihn Lagern ihre Hilfe anbieten. Diese in der Öffentlichkeit als "Zivilcourage" bezeichnete Fürsorge ist Kants Forderung, "ohne der Leitung eines anderen" und in Erfüllung seiner Begabung zur Vernunft, zur Tat zu schreiten. Pflichten gegen andere können nur gedacht werden, wenn es ein Gefühl für die Pflicht gegen sich selbst gibt. Nur so könne sie in einem moralisch konsistenten Sinne gedacht werden, sagt Zeidler. Und nur so wird Pflicht gegen sich selbst zur politischen Pflicht.
Wenn der Name Immanuel Kant fällt, denken heute viele an knochentrockene Theorien, schwer verständliche Schriften und rigorose Sittenstrenge. Doch Kants Philosophie der Vernunft ist aktueller denn je, erklärt der Philosoph Kurt Walter Zeidler im KURIER-Gespräch. Umso wichtiger ist es, den Denker selbst, der wie kein anderer versucht hat, sein Dasein nach seinen eigenen Überzeugungen zu leben, zu studieren.
Sein Selbst, sein Leben, sein Charakter: Das alles baut auf Prinzipien der Vernunft auf.
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Es begann schon in seiner Jugend. Kant wird als viertes von neun Kindern am 22. April 1724 im ostpreußischen Königsberg in eine Handwerkerfamilie geboren. Johann Georg Kant, ein ehrsamer Sattler- und Riemermeister, heiratete 1715 Anna Regina Reuter, die Tochter eines Handwerksgenossen. Es sind Werte des Kleinbürgertums, mit denen der junge Kant aufwächst - Arbeit, Ehrlichkeit und Sparsamkeit.
Geht mit der Zeit
Während seines Studiums an der Universität Königsberg gibt er seinen Kommilitonen Nachhilfeunterricht. Kant möchte keine Schulden machen, finanziell unabhängig sein. An diese Maxime hält er sich strikt fest. Das Geld seiner Mitstudenten kommt ihm gelegen. Schon im jungen Alter verkörperte Kant das Bild der deutschen Tüchtigkeit.
Obwohl Kant wegen des Ablebens seines Vaters sein Studium für sechs Jahre unterbrechen muss, weil er sich um seine jüngeren Geschwister kümmern muss - seine Mutter starb bereits Jahre zuvor -, bleibt er stets auf der Bahn seines Denkens. Niemals verliert er sein Ziel aus den Augen. Seine Strebsamkeit macht sich schließlich bezahlt. 1755 bekommt er die langersehnte Lehrbefugnis als Privatdozent.
Bei den Studenten ist der junge Professor beliebt. Kant achtet auf sein Äußeres und verlangt selbiges von seinen Zuhörern. Man müsse immer mit der Zeit gehen, soll er seinen Studenten geraten haben. Dem jungen Akademiker wird geschmeichelt, seine Arbeit wird gelobt, von Kritikern und Anhängern wird er bewundert.
Reifungsprozess mit 40 abgeschlossen
In seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798) schreibt Kant, dass der Mensch im Alter von 40 Jahren seinen Reifungsprozess abgeschlossen hat. Erst jetzt komme es zur "Gründung des Charakters", was für den Philosophen bedeutet, nach festen Grundsätzen zu handeln, nach bestimmten Maximen.
Doch ausschließlich über den Charakter zu theoretisieren, liegt Kant nicht. Er praktiziert seine Gedanken in ziselierter Weise. Der deutsche Philosoph Wilhelm Weischedel schreibt über den Denker, dass dieser zumindest in seinen späteren Jahren ein "Genie der Pedanterie und Pünktlichkeit" gewesen ist. Seinen Tagesablauf teilt Kant nach eisernen Regeln und Prinzipien ein. Geordneter wird es nach seiner Ernennung zum Professor für Metaphysik und Logik an der Universität Königsberg 1770.
Zubettgehen zeremoniell geregelt
Um fünf Uhr morgens steht Kant auf. Seinem Diener Lampe, ein alter Soldat, gab er den Befehl, ihn nicht länger ruhen zu lassen, auch wenn er es unbedingt wolle. Es folgen Vorlesungen von sieben bis elf, das Mittagessen nimmt Kant auswärts zu sich, nachmittags erfolgt ein Spaziergang und abends der tägliche Besuch bei seinem Freund Joseph Green, ein englischer Kaufmann, den Kant über alles schätzt. Ein Zeitgenosse Kants soll berichtet haben, dass selbst das Zubettgehen, pünktlich um zehn Uhr, zeremoniell geregelt ist:
"Durch die vieljährige Gewohnheit hatte er eine besondere Fertigkeit erlangt, sich in die Decken einzuhüllen. Beim Schlafengehen setzte er sich erst ins Bett, schwang sich mit Leichtigkeit hinein, zog den einen Zipfel der Decke über die eine Schulter unter dem Rücken durch bis zur andern und durch eine besondere Geschicklichkeit auch den andern unter sich, und dann weiter bis auf den Leib. So emballiert und gleichsam wie ein Kokon eingesponnen, erwartete er den Schlaf."
"Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.“
So strikt der Tagesablauf des 1,57 Meter großen Intellektuellen ist, so ärgerlich sind auch Ereignisse, die diese Regelmäßigkeit stören. Als ihn ein Edelmann zu einer Spazierfahrt einlädt und Kant erst gegen zehn Uhr abends vor seiner Wohnung abgesetzt wird, setzt er dieses kleine Erlebnis sofort in eine allgemeine Lebensregel um: "Lasse dich nie von jemanden zu einer Spazierfahrt mitnehmen".
Kant wird zum Meister seines berühmten kategorischen Imperativs: "Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.“
"Was ist der Mensch?"
Zu seiner Pedanterie in der Zeiteinteilung tritt auch eine strenge Selbstdisziplin. Zum Frühstück leistet sich der alte Kant nur zwei Tassen Tee und eine Pfeife Tabak; das Abendbrot wird gestrichen.
Sollten wohl die letzteren an ihren härteren Gesichtszügen den Zustand eines getragenen Jochs verraten?
Eine Verehelichung kam für den Philosophen offenbar nie infrage. Begründet hat er sein Dasein als Junggeselle stets damit, dass unverehelichte Männer länger ein jugendliches Aussehen haben, als verehelichte. Mit subtiler Zunge fügt er hinzu: "Sollten wohl die letzteren an ihren härteren Gesichtszügen den Zustand eines getragenen Jochs verraten?"
In dieser Zeit des völlig geordneten Lebens schreibt Kant sein bahnbrechendes Hauptwerk "Kritik der reinen Vernunft" (1781). Die darin enthaltene Schlussfolgerung, dass sich die kritische Philosophie mit der Frage "Was ist der Mensch?" auseinandersetzen müsse, führt abermals zu Kants Charakter.
Für Kant ist der Mensch ein vernunftfähiges Wesen, das nach Prinzipien leben kann, die es sich selbst gegeben hat. Unser Leben hat nur den Wert, den wir uns selbst geben, unabhängig von der Natur. Eine Maxime, an die sich der Philosoph hält.
Der verzettelte Denker
Als Kant 60 ist, ändert sich seine Lebensweise. Sein Freund Green, den er jahrelang täglich besucht hat, stirbt. Er zieht sich langsam aus der Öffentlichkeit zurück. Nur bei seinen abendlichen Spaziergängen um exakt sieben Uhr erspähen seine Anhänger, die "Kantianer", den Professor - die ersten Groupies sozusagen.
Die am Himmelfahrtstage durch Versalzung des Butterfisches früh morgendes fehlgeschlagene Kocherey muss nicht mehr vorkommen.
Mit 70 nehmen Freunde Veränderungen beim deutschen Paradephilosophen wahr. Immer öfters fallen Lesungen an der Universität aus, wegen Alters und Schwäche, wie es heißt. Seine geistigen Kräfte reichen nicht mehr aus, um seine Naturphilosophie zu vervollständigen, heute bekannt als 'Opus postumum'. Die intellektuelle Anstrengung fällt ihm schwer. Zu dieser Zeit dürfte auch die Demenz begonnen haben.
In seinen Notizen zu philosophischen Überlegungen findet sich mitunter auch eine Beschwerde über die Köchin: "Die am Himmelfahrtstage durch Versalzung des Butterfisches früh morgendes fehlgeschlagene Kocherey muss nicht mehr vorkommen."
Kant bedankt sich
Mit zunehmendem Alter lässt Kants Kurzzeitgedächtnis nach, alltägliche Dinge vergisst er, bestimmte Geschichten werden wiederholt. Seine Pedanterie löst sich langsam auf: Spaziergänge werden kürzer, Besuche rarer, Arbeitsweisen ungeregelter. Alles, was Kant wichtig war, verliert er: seinen Verstand, seine Autonomie, seine Vernunft.
Anfang des 19. Jahrhundert äußert der Philosoph den Wunsch zu sterben. Er könne der Welt nicht mehr nützen und wisse nicht, was er mit sich anfangen soll, klagte er dem Theologen und Biografen Wasianski. Die letzten Tage verbringt Kant nur noch im Bett. Um 4 Uhr morgens wird dem Philosophen ein Löffel mit einer Mischung aus Wasser und Wein gereicht. Kant bedankt sich, dreht sich um und sagt leise: "Es ist gut."
Es ist der 12. Februar 1804, um 11 Uhr hört der Denker auf zu atmen. Kant, ein Mann, der lebte, wie er dachte und am Ende als der Mensch starb, der er war.
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