Im echten "Anatevka" war nichts romantisch
Das Musical "Anatevka" ist ja nur ein kleiner Teil des jiddischen Meisterwerks "Tewje, der Milchmann".
Vor allem kommt eine falsche Romantik auf, und man wird, wenn alles singt, nicht spüren, dass es in vorrevolutionärer Zeit zu blutigen Ausschreitungen gegen Juden kam.
Mit Sündenböcken lenkten (auch) die letzten Zaren von wirtschaftlichen und politischen Problemen ab.
Man wird, wenn alles tanzt, nicht sehen, dass mit Tewje die Kultur des Ostjudentums am Ende ist.
Es gibt auf der Bühne nicht diese Abschiedsszene:
Der alte Tewje sitzt in der Eisenbahn und redet mit seinem Erfinder, dem Schriftsteller Scholem Alejchem.
Tewje ist heimatlos geworden, er wird herumgeschleudert, heute nach Odessa, morgen nach Amerika – und da stellt er sich in Gedanken vor:
Der Höchste will jetzt doch einmal seinen Kinderchen den Messias hinunterschicken, und "derweil seid mir gesund, fahrt wohlbehalten und lasst mir unsere Juden recht schön grüßen, und richtet ihnen dorten aus, sie mögen sich nicht sorgen …"
Friede sei mit euch
"Tewje, der Milchmann" wurde zwischen 1894 bis 1916 geschrieben, er ist eher eine Sammlung von Erzählungen mit rotem Faden als ein Roman … und gestern erst erschien dieses Buch erstmals vollständig aus dem Jiddischen übersetzt.
Das hat der österreichische Germanist und Schriftsteller Armin Eidherr besorgt, sein Nachwort ist unentbehrlicher und kundiger Begleiter.
Scholem Alejchem (= Friede sei mit euch, Pseudonym für Scholem Rabinowitsch) stammte aus der Ukraine und war wie sein Tewje oft auf der Flucht vor sogenannten Pogromen. Ein "jüdischer Mark Twain", der für sechs Kinder zu sorgen hatte. (Auch schon was: Der arme Tewje hat sieben Töchter.) 28 Bücher hat Alejchem verfasst.
Als er 1916 in New York starb, standen 150.000 Menschen auf dem Weg zum Brooklyner Arbeiterfriedhof, auf dem er unbedingt bestattet werden wollte.
Scholem Alejchem:
„Tewje, der Milchmann“
Übersetzt von Armin Eidherr.
Manesse Verlag.
288 Seiten.
25,70 Euro.
Kommentare