Ilija Trojanow: So entstand der Amazonas
Kürzlich wurde er im ORF "bulgarischer Schriftsteller" genannt.
Obwohl Ilija Trojanow 1971 als Sechsjähriger mit seinen Eltern geflüchtet war – über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, dann Kenia, Paris, Mumbai, Kapstadt … ein Weltreisender, der in Wien Ausgangspunkt und Ruhepol gefunden hat.
Bulgarischer Schriftsteller: Ist es denn so wichtig, woher man kommt? Ist es nicht mindestens genauso wichtig, wohin man geht?
Heimate
Trojanows neues Buch heißt "Nach der Flucht". Er hat es seinen Eltern gewidmet – als Dank, dass sie ihn mit der Flucht BESCHENKTEN.
Das hat er erst kapieren müssen: Flucht ist nicht nur Tragödie, es kann auch befreiend sein. Nach den Verstörungen – das Anpassen an die neue Gesellschaft, die neue Sprache – kann es erlösend sein. Diese Vielfalt ...
Schon vor zehn Jahren hat Ilija Trojanow im KURIER dafür plädiert,dass man das Wort "Heimat" in die Mehrzahl setzt.
Der Duden kennt die "Heimate". Warum habe die Leut’ damit Probleme?
Und er fragt: Was ist denn der natürliche Zustand? So sicher ist das nicht, dass es das Sesshafte ist. Das Reisende gehört ebenso zu unserer Kulturgeschichte.
Klasse 1 b
"Nach der Flucht" wehrt sich wie Ilija Trojanow gegen das Einordnen. Es sind 198 kurze Texte, Dramolette, Überlegungen. Er ist 51, und vielleicht ist das Buch noch nicht die Quintessenz seines Lebens, aber eine Essenz.
Nicht alles ist Autobiografisch. Diese Geschichte ist es:
Er wird in Deutschland eingeschult. Klasse 1b, sagt die Direktorin zu seiner Mutter. Zweiter Stock.
"Sie deutet nach oben. Eine breite Treppe. Als sie in den Gang biegen, wird eine Tür zugeschlagen. Die Mutter klopft an die Tür. Herein! Ein Raum voller Kinder in seinem Alter. Er beginnt sich zu schämen. Die Rede seiner Mutter ein Radebrech. Er kann es nicht besser. Nein, nein, nein, wehrt die Lehrerin mit beiden Händen ab, ich habe schon vier Türken in meiner Klasse. Und scheucht Mutter und Sohn davon. Die Treppe hat beim Hinabsteigen mehr Stufen."
(Zitat Ende)
Auch das war sein eigenes Erlebnis: Als staatenloser Student wurde er am Brenner am Kragen gepackt und aus dem Nachtzug geworfen. Er wollte bloß von Italien zurück nach Deutschland – aber für Österreich, auch für die Durchfahrt, brauchte er ein Visum.
Das wusste er nicht. Andere Länder ließen und lassen Staatenlose mit Flüchtlingspass einreisen, ausreisen, durchreisen. Um nach Mailand, aufs Konsulat, zu gelangen, fehlte ihm das Geld.
Ein zweiter Versuch der Durchreise scheiterte ebenso: Man setzte ihn in einen Zug nach Bozen.
Ein Lastwagenfahrer hörte sich seine Geschichte an und nahm ihn kommentarlos nach Deutschland mit.
Aus diesem alten, aber unvergessenen Vorfall resultiert Trojanows Satz, der provozieren könnte – und es soll:
"In einem System der Unmenschlichkeit ist der Verstoß gegen die Gesetze eine humane Maxime."
Schön fremd
Dass Ilija Trojanow oft gefragt wird, wieso er so gut Deutsch könne, nervt ihn genauso wie der "bulgarische Schriftsteller":
Man kann es lernen. Sehr viele haben es gelernt. Man ist geneigt zu ergänzen: auch Österreicher!
(Er braucht nicht extra zu erwähnen, dass er mehr Deutschkurse und die Öffnung des Arbeitsmarktes für mitentscheidend hält.)
"Nach der Flucht" setzt dem Wunsch nach Einigeln etwas Kluges entgegen. Einigeln sei Schlaf und letztlich bedeute es Tod.
Vielleicht hilft das Buch, manches besser zu verstehen. Man wird vermutlich nicht gleich schreien: "Das ist mir fremd und das ist schön!"
Aber nehmen wir den Rio Negro und den Rio Solimões.
Schwarz und gelb
In der Nähe der brasilianischen Stadt Manaus treffen die beiden Flüsse zusammen. Man kann nicht behaupten, dass sie ineinander fließen.
Der Rio Negro ist schwarz, der Rio Solimões gelb. Die ph-Werte sind unterschiedlich. Der schwarze Fluss ist 28 Grad warm, der gelbe hat nur 22 Grad ... und viel schneller ist er.
Trojanow: "Es scheint, als könnte nichts die beiden vereinen; und niemals soll’n die zwei sich finden." (Das war jetzt ein Zitat von Rudyard Kipling.)
Doch elf Kilometer später sind sie eins geworden. Ein neuer Fluss entstand. Ein prächtiger. Der Amazonas.
Ilija Trojanow:
„Nach der Flucht“
Verlag S. Fischer.
125 Seiten.
15,50 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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