Hundekot-Attacke: Scheißzeiten für Kulturkritiker

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Ein Ballettdirektor bewirft eine Kritikerin mit Exkrementen. Eine Erinnerung daran, wie aufgeladen die Beziehung von Kritisierten und Kritikern einst war.

Dass der Hannoveraner Ballettdirektor am Samstag eine unliebsame Journalistin mit Hundekot bewarf, fällt durch den hohen Ekelfaktor vielleicht noch mehr auf als durch den mitgemeinten Angriff auf die Pressefreiheit.

Der Eklat steht aber in einer durchaus langen Tradition an Auseinandersetzungen zwischen Kritisierten und Kritikern, die geprägt ist von scharfen Formulierungen, Klagen und der einen oder anderen Watsche. Und die Attacke lädt, auf übelriechende, aber effiziente Art, ein historisches Spannungsverhältnis mit neuer Energie auf, das wegen Veränderungen im Medienkonsum akut zu ermatten droht.

Denn das Verhältnis von Publikum, Bühnen und Kritikern ist ein ganz anderes als noch vor wenigen Jahren. Was ein Schaden für alle Beteiligten ist, auch wenn sich Direktoren und Publikum über manche Kritik grün und blau geärgert haben.

Bis ungefähr zur Jahrtausendwende hatten die Kritiker immense Macht: Ein Wort, ein Satz in einer Kritik in einer wichtigen Zeitung konnte Bühnenkarrieren in lichte Höhen führen – oder beenden. Legendär sind die Ausführungen der einstigen Großkritiker, die mit dieser Macht durchaus lustvoll spielten: Friedrich Gulda spielte „Mozart und einen Furz“, schrieb etwa der langjährige KURIER-Musikkritiker Franz Endler einmal. Für den Satz, dass eine Sängerin aussehe wie eine „Kredenz auf Radeln“, wurde Karl Löbl einmal verurteilt.

Die Figur des Kritikers war, nachvollziehbar, für viele ein Reibebaum – und ein rotes Tuch für Direktoren und Künstler. Wobei diese den Kritiker traditionell so ernst nahmen wie wohl niemand sonst: So rufen manche Großdirektoren noch heute persönlich an, wenn ihnen ein halber Satz in einer Kritik nicht passt. Auch der Hannoveraner Ballettdirektor Marco Goecke war von einer vorhergehenden Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung so empört, dass er zum Tierexkrement griff.

Direkte Ansprache

Ein fast schon aus der Zeit gefallener Akt. Denn heute glauben viele Bühnen, sich die unangenehmen kritische Auseinandersetzung sparen und den bequemen Weg direkt zum Kunden gehen zu können. Man versucht, die Rolle selbst zu erfüllen: Auf Instagram werden an wenige User eckige Werbefilmchen darüber gepostet, wie gelungen die Aufführungen doch sind.

Die Besucher wiederum versammeln sich zunehmend in Online-Fangruppen, wo jeder selbst Kritiker ist, meist gelobhudelt wird – Kritiken in Medien aber als unziemlicher Blick von außen abgetan werden. Und viele Medien – auch große! – denken sich angesichts der überschaubaren Klickzahlen von Opernkritiken: Geht auch ohne. All das ist ein Schaden für die Bühnen und die Bühnenkünstler. Nicht nur, weil Kritiken im Idealfall – der nicht immer eingelöst wird – eine Auseinandersetzung auf hohem Niveau sind, die sowohl den Leserinnen und Lesern als auch den Ausführenden neue Perspektiven öffnen können.

Sondern insbesondere wegen des Transfers an Wichtigkeit: Das Spiel zwischen Künstlern, Direktoren und Kritikern war vor allem eines, in dem einander alle Beteiligten für wichtig hielten. Diese Wichtigkeit im öffentlichen Diskurs aber ist etwas, das den Bühnen zunehmend abgeht: Ihre Produkte sind nicht Social-Media-tauglich (zu lang, zu kompliziert, zu fad). Die Spitzenpolitik sieht keinen Nutzen mehr darin, im Theater zu sitzen. Nur die Kritiker halten Stellung und finden es, wie im Falle Hannover, noch der Mühe wert, eine Ballettaufführung – sonst unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit! – zu verreißen. Da müsste jeder Direktor heute eigentlich Blumen werfen.

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