Henry James: Kein Respektabstand mehr
2015 und 2016 beweisen viele Neuübersetzungen, dass es unsinnig ist, einen respektvollen Abstand zu Henry James zu halten.
Man kann ihn durchaus lesen, man wird in den langen Sätzen die Schönheit finden – aber es eilt nicht.
Für alles kommt die Zeit. (Und wenn diese Zeit nicht kommt? So hat man vielleicht eine der 30, 40 Verfilmungen seiner Bücher gesehen ..."Portrait of a Lady" mit Nicole Kidman oder "The Golden Bowl" mit James Fox und Anjelica Huston. Und wenn nicht? Naja, naja, dann ist es ... egal.)
Der Salzburger Büchner-Preisträger Walter Kappacher war über 60, als er erstmals in ein Buch des in Europa verliebten New Yorkers schaute, der vor knapp 100 Jahren, 1916, in London starb.
Aber dann ließen Kappacher "Die mittleren Jahre" erst los, nachdem er die Erzählung übersetzt hatte und dadurch besser verstehen konnte.
Keine Diener
In der steifen Biografie der schottischen Literaturwissenschaftlerin Hazel Hutchison ist diese Erzählung keinen Satz wert.
Macht nichts, ihr Buch verbindet immerhin Henry James’ langweiliges Leben, in dem er vor allem beobachtet und zugehört hat, sehr fein mit seinem umfangreichen Werk.
Sind wir hier an dieser Stelle stattdessen bei "Die Europäer" kurz angebunden. Eine Komödie ist das über den Clash der Kulturen, voller sprühender Dialoge – eine deutsche Baronin und ihr jüngerer Bruder reisen zu den provinziellen Verwandten nach Neuengland (mein Gott, die haben ja keine Diener!) und hoffen, dort eine gute Partie zu machen.
James’ Bruder William, ein Philosoph, nannte den Roman "dünn und leer".
Unsinn. Leicht ist er, angenehm leicht.
Und die Erzählung "Daisy Miller", der größter Publikumserfolg von Henry James?
Ist tragischer.
Hier bekommt es "die Alte Welt" (= die Schweiz, Rom) mit der lockeren, aber unschuldigen "Neuen Welt" (= Fräulein Daisy, eine amerikanische Blume in der Blüte ihres Frühlings) zu tun.
Daisy lässt sich nicht einordnen. Schau dir so was an, sie flirtet! Europa rätselt, ob sie möglicherweise eine Hure ist. Henry James stellte schon 1878 massiv infrage, dass Frauen die Rolle als Hausfrau und Mutter auszufüllen haben.
Jetzt aber zurück zu "Die mittleren Jahre". Aaah (mit Verlaub)!
Der alternde Schriftsteller Dencombe war sehr krank. Er hofft auf eine "Verlängerung", denn: zwar ist er bekannt, aber jetzt – sagt er – habe er die richtige Sprache gefunden, die Vollendung seines Stils.
Er wird merken, dass es keinen Aufschub gibt. Was er getan hat, war genug für sein Leben.
Es ist so wenig Handlung in der kurzen Geschichte, aber sie bohrt sich tief, meditieren kann man lange darüber, und man könnte weinen am Ende.
Da muss man kein Schriftsteller sein, um sich zu spüren – auch wenn das berühmte Zitat in Walter Kappachers Übersetzung lautet:
"Eine zweite Chance – das ist die Illusion. Es gab nie mehr als eine einzige. Wir arbeiten im Dunkeln – wir tun, was wir können – wir geben, was wir haben. Unser Zweifel ist unsere Leidenschaft, und unsere Leidenschaft ist unsere Aufgabe. Der Rest ist der Wahnsinn der Kunst."
Und wenn man etwas geleistet hat, was auch immer, kann man wohl abtreten. Denn: Es war das Mögliche, es war ... ich.
Henry James:
„Die Europäer“ Übersetzt von Andrea Ott.
Nachwort von Gustav Seibt.
Manesse Verlag. 256 Seiten. 25,70 Euro.
Hazel Hutchison:
„Henry James – Biografie“
Übersetzt von Ute Astrid Rall.
Parthas Verlag.300 Seiten. 25,50 Euro.
Henry James:
„Die mittleren Jahre“
Übersetzt von Walter Kappacher.
Verlag Jung und Jung. 66 Seiten. 12 Euro.
Henry James:
„Daisy Miller“
Übersetzt von Britta Mümmler.
dtv. 128 Seiten. 15,40 Euro.
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