Gottfried Helnwein: "Sehen, wo Menschen nicht mehr sehen"
KURIER: Woher stammt das Bild am Ringturm ursprünglich, wie haben Sie es adaptiert?
Gottfried Helnwein: Wie Sie wissen, ist das Kind, insbesondere das Kind als Opfer von Gewalt, immer wieder das Zentralthema meiner Arbeit gewesen. Um das Jahr 2000 habe ich eine Serie von Kindern mit Waffen begonnen, die Vorlage für die Ringturm-Verhüllung stammt aus dieser Reihe.
Können Sie den Reiz dieser Ästhetik der Gewalt auch nachvollziehen?
Ästhetik ist ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz, und weil sie so unverzichtbar ist, kann man sie natürlich auch missbrauchen. Die Nazis wussten um die Macht der Bilder und haben sie virtuos eingesetzt, von Leni Riefenstahls Filmen und Speers Lichtdomen bis zum Design der SS-Uniformen, die übrigens von Hugo Boss hergestellt wurden. Die Ästhetik der Gewalt war aber noch nie so präsent wie in unserer Gesellschaft, im Internet, den Massenmedien, in Filmen und Computer Games, wobei die Unterschiede zwischen Fact und Fiction kaum mehr wahrnehmbar sind. Im Gegenteil: in der Regel erscheinen computergenerierte Special Effects mit ihren spritzenden Blutfontänen, platzenden Schädeln und den sich in Zeitlupe im Raum verteilenden Gehirnpartikeln überzeugender und realer als Reportagen von wirklichem Sterben und wirklichem Schmerz. In meiner Arbeit am Ringturm beziehe ich mich auf Goya, der vor 200 Jahren Zeuge des Gemetzels zwischen den Soldaten Napoleons und der aufständischen spanischen Bevölkerung war. Mit seinem Radierungszyklus machte er etwas, das es bis dahin noch nie gegeben hat: die Darstellung des Krieges nicht als Glorifizierung der Sieger, nicht als Heldenverehrung. Er ergreift nicht Partei, er zeigt einfach nur den Wahnsinn, die Sinnlosigkeit des Schlachtens, die Schmerzen, die Wut – und den Tod. In seiner Darstellung gibt es nur Verlierer. Es ist der verzweifelte Versuch sich gegen das kollektive Vergessen zu stemmen, und das was vor seinen Augen passiert, vor der Geschichte zu bezeugen . “I Saw This!“ schrieb er daher auf eines seiner Blätter. Für mich der Schlüsselsatz in diesem Werk und vielleicht für die Rolle des Künstlers überhaupt. Zu sehen, wenn alle anderen die Augen längst geschlossen haben.
Ist die Idee des Künstlers als einer Art Prophet haltbar?
Ich glaube ja. Wirklich relevante Kunst kann durchaus visionär sein. Orwells und Huxleys fiktionale Dystopien sind Wirklichkeit geworden. Kunst braucht keine Regeln, Kunst kann alles sein: Unterhaltung, Dekoration, Pathos, Satire, Kontemplation, was auch immer. Aber es gibt eine Tradition in der Kunst, die sich verpflichtet fühlt, zu sehen, wo Menschen nicht mehr sehen, zu hören, wo Menschen nicht mehr hören, sich zu erinnern, wenn die Menschheit vergisst und eine Art Zeugenschaft abzulegen.
Ich habe allerdings Zweifel, dass Menschen wirklich abstumpfen. Jene Personen, die Youtube und andere Kanäle von Gewalt säubern müssen, sind etwa oft schwer traumatisiert.
Ich glaube, dass Verdrängungsmechanismen eine Schutzmaßnahme sind, weil die Menschen sonst zerbrechen würden, wenn sie sehen müssten, was sie in der Welt um sie herum alles anrichten. Man nimmt dann aber mit der Zeit immer weniger wahr, bis die Wahrnehmung so selektiv wird, dass man nur mehr sieht, was man sehen will, und schließlich ganz aufhört zu sehen. So konnte man zum Beispiel entspannt durch die Straßen gehen, ohne all die Menschen sehen zu müssen, die einen gelben Stern auf der Brust getragen haben. Ich habe immer wieder mit Menschen meiner Elterngeneration diskutiert und nie jemanden getroffen, dem aufgefallen wäre, dass das Leben ihrer jüdischen Mitbürger vor ihren Augen ausgelöscht wurde.
Sie haben auch Comic- und Manga- Figuren in Ihre Gemälde eingebaut. Das visuelle Feld ist heute zusätzlich durch Emoji und Piktogramme erweitert. Sind diese Elemente nur lustig, oder wohnt ihnen auch ein Potenzial inne, Dinge zu zeigen und anders zu sehen?
Pasolini sagt, dass die Konsumgesellschaft dem unausgesprochenen Befehl gehorcht, gleich zu sein wie alle anderen, im Konsumieren, im Glücklichsein und im Freisein, und dass es das schwerste Verbrechen sei, anders zu sein. All diese digitalen Ready-Mades, diese Cuteness- und Fun-Symbole, diese vorgefertigten Kommunikations-Ersatz- und Versatzstücke haben natürlich den Vorteil, dass die ganze Welt zu einem sprachlichen Schlaraffenland werden kann, in dem niemand mehr einen Finger rühren muss und in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Und endlich könnte dann jeder fett und aufgedunsen da sitzen und idiotisch vor sich hin grinsen, ohne von individuellen, eigenständigen, originären, überraschenden oder gar subversiven Ideen belästigt zu werden.
Brauchen wir eine visuelle Alphabetisierung? Wie könnte sie vonstatten gehen?
Ich weiß es nicht. Was feststeht, ist, dass das digitale Zeitalter eine tiefgreifendere Veränderung für die Menschheit bedeuten wird als jedes Ereignis davor. Unsere Werte, unsere Wahrnehmung und unser Denken, unsere Art zu empfinden und zu kommunizieren wird sich total verändern. Unsere Spezies wird eine andere sein. Ich finde die Vorstellung einigermaßen beunruhigend, dass es das erstmal technisch möglich ist, jede Bewegung, jeden Ausspruch, jeden Gedanken zu überwachen, aufzuzeichnen und für immer festzuhalten. In einem weit größeren Ausmaß, als sich das Orwell in seiner Vision von einem zukünftigen Dystopia vorstellen konnte. Ich spüre jedenfalls den heißen Atem des Großen Bruders in meinem Nacken, wenn ich an meinem Computer sitze und etwas schreiben will, und eine unsichtbare Hand Worte aus meinen Sätzen klaubt und durch andere, völlig unsinnige, sinn-zerstörende ersetzt. Huxley hat von einer Zukunft gesprochen, in der pharmazeutische Methoden die Menschen dazu bringen würden, ihr Sklavendasein zu lieben. „Eine Diktatur ohne Tränen“, wie er es nannte. Eine Gesellschaft in einem „Konzentrationslager ohne Schmerzen“, in dem die Menschen es genießen würden, wenn ihnen ihre Freiheit genommen wird, weil sie durch Propaganda und Gehirnwäsche viel zu zerstreut wären, um zu rebellieren. Ich fürchte, dass ich mich für so eine Welt leider überhaupt nicht eigne, da ich geradezu besessen bin von der Idee, selbst zu schauen, selbst zu denken, meine eigenen Schlüsse zu ziehen, und meine eigenen Fehler zu machen, ganz egal was der Rest der Welt davon hält.
Bei unserem letzten Gespräch waren die Enthüllungen von Edward Snowden gerade aktuell, und Sie haben sich recht optimistisch über das subversive Potenzial des Internets geäußert. Lebt Ihr Optimismus noch?
Solange es Diktaturen und Unterdrückung gibt, egal wie allmächtig und unüberwindlich sie auch scheinen mögen, wird es immer auch irgendwelche widerspenstigen Geister geben, die den Widerspruch wagen und sich niemals beugen würden, die alles riskieren und Gegenstrategien entwickeln werden, egal wie wenige sie auch sein mögen und wie aussichtslos ihre Lage auch scheinen mag. Wie sehr totalitäre Regime diese Gandhis, Jägerstätters und Snowdens auch heute noch fürchten, zeigt der Umstand, dass Whistleblower, also Menschen, die die großen Verbrechen des Systems aufzeigen, weltweit gejagt werden wie Terroristen. Und ironischer- oder logischerweise ist der Mann, dem der blasse Brillenträger Edward Snowden sein Leben verdankt, der einzige auf dem Planeten, der den Mut und die Macht hat, ihn davor zu bewahren, in einem CIA-Foterkeller zu verrotten: Putin, der Lieblings-Bösewicht der westlichen Medien.
Das wirkt, als würden Sie in Putin einen Schirmherr der Rebellen und Whistleblower sehen. Bei aller möglichen Kritik an der westlichen Darstellung Putins steht für mich aber doch außer Zweifel, dass auch und gerade der russische Präsident seine Methoden hat, um Kritik zum Verstummen zu bringen.
Da Putin in den Medien fast immer nur negativ dargestellt wird, sollte es erlaubt sein, ausnahmsweise auch einmal auf die unleugbare Tatsache hinzuweisen, dass Snowden ihm seine Freiheit und möglicherweise sein Leben verdankt. Es liegt mir fern, weiter gehende Schlüsse daraus zu ziehen oder gar objektiv werten zu wollen, wer die Menschenrechte mehr verletzt: Russland oder die USA, China, Saudi Arabien oder der Iran, Israel, die Palästinenser, Ägypten, die Türkei, Pakistan oder die Ukraine. Das wäre ein zu schwieriges und zu umfangreiches Unternehmen, um ihm in einem schlichten Interview mit einem Künstler gerecht zu werden.
Zur Person: Gottfried Helnwein
Gottfried Helnwein wurde 1948 in Wien geboren und studierte von 1969 bis 1973 bei Rudolf Hausner an der Wiener Akademie der Bildenden Künste. Mit seinen hyperrealistischen, nicht selten kontroversiellen Gemälden erlangte er bald große Popularität, wobei seine Arbeit außerhalb des engeren Kunstbetriebs maßgeblich zu seiner Bekanntheit beitrug: Seine Magazin- und Plattencovers (u.a. für Scorpions, Rammstein, Marilyn Manson) gelten heute als legendär. Auch als Bühnenbildner war Helnwein aktiv, zuletzt etwa für Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ an der Volksbühne Berlin 2015.
2013 zeigte die Albertina eine große Retrospektive von Helnweins Werk, bei der 250.000 Besucher gezählt wurden. Auch im Wiener Stadtraum war der Künstler bereits präsent – das 2008 am Naschmarkt angebrachte Werk „Der lange Atem wird kürzer“ wurde mittlerweile aber übermalt. Helnwein bewohnt ein Schloss in Irland und hat einen weiteren Wohnsitz in Los Angeles.
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