Sie ist im Moment der Aufreger unter Wiens Straßen. Die Wienzeile. Da kann’s schon passieren, dass man im Stau stecken bleibt. Ich kann Ihnen als geplagtem Autofahrer nur den schwachen Trost vermitteln, dass Sie während des Wartens allerhand Bemerkenswertes erkunden können, zählt die Wienzeile doch zu den prachtvollsten und historisch interessantesten Straßen der Stadt.
Genau genommen gibt es zwei Wienzeilen: Die Linke (auf der man stadtauswärts fährt und an der momentan der Wiental-Radweg entsteht) und die Rechte. Die LinkeWienzeile ist die prunkvolle, geadelt durch das Theater an der Wien und mehrere Otto-Wagner-Bauten. Die Rechte ist die ältere, die schon um 1700 als Verkehrsweg in den Westen führte. Heute durchlaufen die beiden Wienzeilen insgesamt sechs Bezirke (den 4., 5., 6., 12., 14. und 15.).
Häuser von Otto Wagner
Die dem Flussufer der Wien angeglichene Linke Wienzeile sollte in der Spätgründerzeit zu einem nach Schönbrunn führenden Prachtboulevard umgestaltet werden, er blieb jedoch unvollendet. Tatsächlich errichtet wurde eine größere Anzahl bemerkenswerter secessionistischer Wohnhäuser, einige von Otto Wagner, dessen berühmtestes das Majolikahaus auf Nr. 40 ist. Von dem großen Jugendstilarchitekten stammen auch die Pläne zur Überdachung des Wienflusses.
Bereits im Jahr 1801 war das auf der Linken Wienzeile gelegene Theater an der Wien entstanden. Nein, hier wurde nicht, wie oft fälschlich kolportiert, die „Zauberflöte“ uraufgeführt, und doch verdankt das Bühnenhaus seine Existenz dieser Mozart-Oper: Emanuel Schikaneder war Direktor des nahe der Rechten Wienzeile gelegenen Freihaustheaters und suchte dringend ein Musikspiel für die nächste Premiere. Da erinnerte er sich einer Idee, die er mit Mozart zehn Jahre davor in Salzburg gehabt hatte: die Romanze des Prinzen Tamino mit der Königstochter Pamina.
Die „Zauberflöte“ wurde am 30. September 1791 im Freihaustheater uraufgeführt und war ein so glänzender Erfolg, dass Schikaneder mit den Einnahmen das Grundstück Laimgrube Nr. 4 kaufen konnte, um darauf das heutige Theater an der Wien – mit der Adresse Linke Wienzeile 6 – zu errichten. Mozart hat den Bau des neuen Theaters nicht erlebt, er starb wenige Wochen nach der Premiere der „Zauberflöte“. Aber Beethoven erlebte am 20. November 1805 im Theater an der Wien die Uraufführung seiner Oper „Fidelio“.
Wiens größter Markt
Zwischen Linker und Rechter Wienzeile befindet sich auf dem überdachten Wienfluss Wiens größter Markt, der Naschmarkt. Er ist das langlebigste Provisorium der Stadt, wurde er doch 1916 gebaut und sollte bald wieder abgerissen werden. So dauert das Provisorium jetzt schon mehr als 100 Jahre. Der Naschmarkt erstreckt sich von der Secession bis zur Kettenbrückengasse und ist eine einzigartige Attraktion für Wiener und Touristen.
Dabei hat sich die Atmosphäre des 23.000 großen Obst- und Gemüsemarktes geändert. Von den einst 680 Standln gibt es viele nicht mehr, vor allem seit Anfang der 1990er-Jahre die ersten Gastronomiebetriebe entstanden. Sie erfreuen sich großer Beliebtheit, werden aber von den „Standlern“ misstrauisch beäugt. Ein Drittel der verbauten Marktfläche darf für gastronomische Zwecke verwendet werden.
„Donaufetzen“
Heute ist der Naschmarkt ein Schmelztiegel der Kulturen, und so gibt’s auch die „Frau Sopherl“ nicht mehr, die an ihrem Stand Erdäpfel und Paradeiser feilbot. Die unvergleichliche Wiener Type war eine Schöpfung des Volksdichters und Eisenbahnbeamten Vinzenz Chiavacchi, der ihr die schönsten Schimpfwörter in den Mund legte. Die literarische Vorlage der „Frau Sopherl“ vom Naschmarkt war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein so populär, dass es sie und ihre Schimpfkanonaden bald tatsächlich gab. „Ausg’schwabter Donaufetzen“ rief die „Frau Sopherl“ den Dienstmädeln nach, die es wagten, bei der Konkurrenz zu kaufen, und auch „Schau dass d’ weiterkummst, deppert’s Drahdiwaberl“ zählte noch zu den höflicheren Ausdrücken, die man am Naschmarkt zu hören bekam.
All das spielte sich eher im innerstädtischen Bereich der Wienzeile ab, weiter draußen standen bis 1972 die Großmarkthallen, an deren Stelle heute der Flohmarkt situiert ist. Ein Stück Wien ist auch das auf der Linken Wienzeile 22 gelegene, 100 Jahre alte Café Drechsler, das als Paradies für Nachtschwärmer galt, da es fast durchgehend geöffnet hatte. Mittlerweile ist aus ihm ein Café-Restaurant mit ganz normalen Sperrzeiten geworden.
Wenn Sie, Gott behüte, im Stau steckend, von der einen zur anderen Wienzeile hinüberschauen, werden Sie bemerken, dass die Rechte ein wenig im Schatten der Linken steht. Die Häuser der Rechten Wienzeile sind nicht so prunkvoll, bekannt sind der „Vorwärts“-Verlag und die Bärenmühle, in der früher eine Mühle untergebracht war. Auf Nr. 15 befindet sich das einzig erhalten gebliebene spätbarocke Bürgerhaus auf der Wieden.
Hans Mosers Geburtshaus
Ein Geheimtipp war das Haus Rechte Wienzeile 93, „Zum schwarzen Bären“, in dem am 6. August 1880 Hans Moser geboren wurde, der hier als Sohn eines Bildhauers und einer Milchfrau auch seine Kindheit verbrachte. Das Haus steht nicht mehr, aber eine Tafel erinnert daran, dass Österreichs populärster Volksschauspieler hier gelebt hat.
Silberne Operette
Im schräg gegenüberliegenden Theater an der Wien gab es in den 1920er-Jahren die große Zeit von Lehárs und Kálmáns „Silberner Operette“. Und Hans Moser feierte in ihr als Dritter-Akt-Komiker seine ersten Erfolge.
Sie sehen, es lohnt sich, während Sie möglicherweise aktuell im Stau stehen, einen Blick auf dieses und jenes Haus zu werfen,
Kommentare