Bilder, die Geschichte schrieben: Die größte private Fotosammlung
Die alte Dame war in ihrer Jugend Mannequin gewesen. Und sie saß auf einem Schatz. Besaß sie doch 20 Modebilder, die die berühmte Fotografin Madame d’Ora in den 1920er-Jahren angefertigt hatte.
Christian Brandstätter besuchte die alte Dame in ihrer Villa in Wien-Döbling und kaufte ihr die Fotos ab. Das ist 40 Jahre her, und heute zählen diese Bilder zum Grundstock der größten privaten Fotosammlung Österreichs.
Eigentlich wollte der heute 76-jährige Christian Brandstätter große Kunst sammeln, aber die konnte er sich in seiner Zeit als Student nicht leisten. Und so kam er „der Not gehorchend“ in den 1960er-Jahren zur Fotografie. „Die ersten Bilder, die ich kaufte, waren Elend- und Verbrecherfotos wie ,Unter der Franzensbrücke“ und ,Wächter im Wienkanal’, die ich damals in Antiquariaten und auf Flohmärkten fand“, erzählt Brandstätter.
1982 gründete er den angesehenen Christian Brandstätter Verlag, blieb seinem Hobby aber treu und verwaltet bzw. besitzt eine Unzahl von Bildern, darunter von renommierten Fotografen wie Franz Hubmann, Franz Votava, Emil Mayer, Franz Xaver Setzer und eben Madame d’Ora. Es sind mittlerweile mehr als drei Millionen Fotos, Grafiken und andere Bildmedien aus den Bereichen Politik, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Sport. Nur das Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ist noch umfangreicher.
Historischer Wert
Viele der Bilder des Brandstätter-Archivs haben großen historischen Wert, darunter Originalfotos von Kaiser Franz Joseph, Bilder des „Wunderteam“-Spielers Matthias Sindelar, Schauplätze der nach dem Zweiten Weltkrieg zerbombten Stadt Wien, Bilder der „Trümmerfrauen“ oder Fotografien von der Unterzeichnung des Staatsvertrags.
Die Fotos der Sammlung stammen aus den Jahren 1840 bis 2000 und umfassen Papierbilder, Schwarzweiß-Negative, Dias; die ersten Bilder aus dem 19. Jahrhundert sind auf Glas- und Metallplatten gepresst. Betreut wird die Sammlung von Brandstätters Archivar Gerald Piffl, der die Bilder in Tausenden Schachteln, wohlgeordnet und jederzeit griffbereit, aufbewahrt. 160.000 der drei Millionen Fotos sind bereits digitalisiert.
Politiker
Leopold Figl und Julius Raab
Das Türschild
Dreifacher Doktor honoris causa: Türschild des niederösterreichischen Landeshauptmanns Figl
Wien um 1910
Schnappschuss eines Dienstmannes als „Zugtier“ vor dem Palais Liechtenstein in der Wiener Innenstadt. Foto: Emil Mayer
Bombenschaden in der Tegetthoffstraße in Wien
Zerbombtes Nachkriegs-Wien, im Hintergrund die Augustinerkirche, aufgenommen im Jahr 1945. Foto: Hans Raab
1938 in Wien
Straßenwaschende jüdische Bürger, März 1938. Foto: Votava
Besonders spannend ist’s, wenn Brandstätter oder sein Archivar beim Studium der Bilder zu neuen historischen Erkenntnissen gelangen. So konnte Gerald Piffl auf einer Fotografie des am 3. April 1936 in Wien gehaltenen Vortrags von Margherita Sarfatti, der Biografin des „Duce“ Benito Mussolini, im Publikum den Dichter Franz Werfel und seine Gemahlin Alma Mahler entdecken. Ein anderes Mal fand er im Archiv des Fotografen Franz Xaver Setzer drei unbekannte Porträts des Schriftstellers Stefan Zweig vor seinem Haus in Salzburg.
Paola Loew
Die Schauspielerin Paola Loew – Ehefrau des Pianisten Friedrich Gulda – mit Mercedes. Foto: Barbara Pflaum
Charlie Chaplin als Regisseur
Stefan Zweig
Entdeckung: Stefan Zweig in Salzburg. Foto: Franz X. Setzer
Der österreichische Schriftsteller Arthur Schnitzler
Arthur Schnitzler, um 1910. Fotografiert von Madame d’Ora
Bildagentur Imagno
Im Jahr 2002 machte Christian Brandstätter sein Hobby zum Geschäft, als er die Bildagentur Imagno gründete, über die Verlage, TV-Stationen und Zeitungen ihre Fotografien für historische Dokumentationen und Berichte beziehen können (auch ich greife für meine KURIER-Kolumne oft und gerne auf die Bestände der Sammlung zurück). Weiters werden die Bilder an Ausstellungen und Museen verliehen. Dieser Tage erschien im Brandstätter Verlag die Sammleredition „Wien 1900“, in der auf mehr als 500 Seiten Abbildungen aus seiner Fotokollektion, aber auch Reproduktionen wertvoller Kunstwerke von Klimt über Kokoschka bis Kolo Moser zu sehen sind.
Heute ist Imagno weltweit die führende Bilddatenbank zur österreichischen Kunst-, Kultur- und Zeitgeschichte. Seit dem Jahr 2017 werden die Imagno-Bilder über Österreichs größte Bildagentur APA-Picturedesk vertrieben.
Bilder in aller Welt
Einige der 20 Modebilder der Madame d’Ora, die Christian Brandstätter vor 40 Jahren der alten Dame in Wien-Döbling abgekauft hat, sind mittlerweile als museale Ausstellungsstücke um die Weit gereist, sie waren voriges Jahr im Wiener Leopold Museum zu sehen und werden im Frühjahr 2020 in Ronald Lauders Neuer Galerie in New York in einer Madame d’Ora-Ausstellung gezeigt.
Die wichtigsten Fotografen, über deren Bilder Christian Brandstätter verfügt:
Madame d’Ora, 1881-1963, eigentlich Dora Kallmus, eröffnete 1907 in der Wiener Innenstadt ein Fotostudio, in dem sie Prominente wie Gustav Klimt, Arthur Schnitzler, Alma Mahler-Werfel u. v. a. porträtierte. 1916 fotografierte sie die Krönung von Kaiser Karl zum König von Ungarn, ab 1917 war sie Wiens führende Modefotografin. 1927 eröffnete sie ein Atelier in Paris, in dem sich Maurice Chevalier, Josephine Baker, Marlene Dietrich u. v. a. fotografieren ließen. Als Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt, überlebte sie im Untergrund. 1946 Rückkehr nach Österreich, wo sie nun Flüchtlingslager und einfache Leute fotografierte.
Franz Xaver Setzer, 1886-1939, In seinem Atelier hinter dem Volkstheater gingen prominente Künstler ein und aus. Er fotografierte den Komponisten Arnold Schönberg und die Schauspielerin Hedwig Bleibtreu, weiters Vertreter der Politik, des Adels und der Wirtschaft. Bei den Salzburger Festspielen porträtierte er Giacomo Puccini, Max Reinhardt, Maria Jeritza und den in Salzburg lebenden Stefan Zweig. Das Fotoatelier wurde nach Setzers Tod von seiner Assistentin Karoline Tschiedel bis 1980 weitergeführt.
Emil Mayer, 1871-1938. Jurist und Fotograf. Gab seine Anwaltspraxis auf, um sich ganz der Fotografie zu widmen. Seine künstlerische Produktion ist von unbemerkt fotografierten, dokumentarischen Wiener Straßenbildern und „Typen“ geprägt. Er und seine ebenfalls jüdische Frau begingen nach Hitlers Einmarsch in Wien Selbstmord.
Franz Votava, 1910-1980 ursprünglich Radiotechniker, Besitzer der größten österreichischen Fotoagentur, für die bis zu 15 Fotografen und Laboranten tätig waren. Votava begann 1938 zu fotografieren, 1946 gründete er die Bild- und Presseagentur. Die Sammlung besteht aus 900.000 Papierbildern, 40.000 Farbdias und zahlreichen Schwarzweiß-Negativen.
Franz Hubmann, 1914-2007, leitete zunächst eine Hutfabrik und entschloss sich nach dem Zweiten Weltkrieg, sein Hobby zum Beruf zu machen. Mitbegründer von Magnum – die Zeitschrift für das moderne Leben, deren leitender Fotograf er war. Hubmann publizierte rund 80 Bildbände, insbesondere zu zeitgeschichtlichen, historischen und volkskundlichen Themen. Seinen Durchbruch schaffte er mit seinen Studien im Café Hawelka. In den 1970er-Jahren gestaltete er für den ORF 17 Fernsehfilme, darunter die fünfteilige Serie Hohe Schule der Fotografie. In seinen späten Jahren galt er als Doyen der österreichischen Fotografie.
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