Er war ein Wunderkind, komponierte Stücke, die ihrer Zeit weit voraus waren, und faszinierte das Publikum in Amerika wie in Europa. Mark Twain und andere berühmte Personen schrieben über ihn.
Doch er war auch von Geburt an blind, vermutlich im autistischen Spektrum – und ein Sklave. Von den für ihre Zeit enormen Summen, die die Konzerttourneen von Thomas Wiggins alias „Blind Tom“ (1849 – 1908) lukrierten, kassierte den Großteil sein Besitzer, der den Musiker als „Idioten“ vermarktete auch nach Abschaffung der Sklaverei sein Vormund blieb.
George Lewis, Komponist, Posaunist und Wissenschafter mit Professur an der New Yorker Columbia University, hat sich über viele Jahre mit Blind Tom befasst. Bei den Wiener Festwochen im Juni gelangt nun eine Oper zur Erstaufführung, die Lewis derzeit auf Basis des Buchs „Song of the Shank“ des Autors Jeffrey Renard Allen komponiert. (13./14./15. 6., VVK ab 6. 3.)
Imitiert
„Ich vergleiche die Geschichte mit Karel Čapeks R.U.R. (Rossum’s Universal Robots)“, erklärt Lewis im KURIER-Gespräch. „Es geht darin um die Frage, was einen Menschen ausmacht. Čapek exemplifiziert es an Robotern, aber es gibt auch die uralte Erzählung, die Schwarzen keine Persönlichkeit zugestand – man sah sie als Objekte und gestand ihnen allenfalls die Fähigkeit zu, Dinge zu imitieren wie ein Papagei. Das war die Situation, mit der Blind Tom zu kämpfen hatte.“
Tatsächlich war Blind Tom bekannt dafür, Melodien im Handumdrehen nachspielen und verschiedenste Klänge am Klavier wiedergeben zu können. In seinen transkribierten Kompositionen, die in ihrer Originalität freilich weit über die Imitation hinausgehen, lieferte er dann musikalische Entsprechungen eines Wasserfalls oder eine Nähmaschine ab. Sein bekanntestes, nach einer Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg benanntes Stück „The Battle of Manassas“ kombiniert populäre Melodien mit nachempfundenen Kanonenschüssen. Für diese setzte er sogenannte Cluster-Akkorde ein, die erst viel später Teil des Repertoires von Komponisten werden sollten.
„Seine Werke brachten zum Vorschein, worum es im 19. Jahrhundert ging – es war wie Sampling heute“, erklärt Lewis, der in musikalischen „Abbildungen“ ein zentrales Stilmittel amerikanischer Musik sieht und eine Entwicklungslinie zu Duke Ellington oder Steve Reich zieht.
Transponiert
Er selbst wolle nun nicht das historische Material von Blind Tom neu interpretieren, sondern sich vorstellen, wie sich der Komponist im 21. Jahrhundert anhören würde, sagt Lewis.
Das Frankfurter Ensemble Modern wird die Musik einstudieren, Autor Renard Allen adaptierte sein Buch als Libretto. Der Künstler Stan Douglas – er vertrat Kanada 2022 bei der Venedig-Biennale und ist bekannt dafür, Historisches neu zu imaginieren – verantwortet die Inszenierung. „Wenn wir davon sprechen, dass wir zeitgenössische Musik dekolonisieren wollen, brauchen wir neue Geschichten“, sagt der Komponist. „Und das ist eine solche Geschichte.“
Lewis’ Anliegen, mehr Diversität in die Strukturen der E-Musik zu bringen, hört freilich hier nicht auf: In wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch in der Auseinandersetzung mit avancierter Technologie gehört er seit Jahrzehnten zu jenen, die auf tief verwurzelte Mechanismen des Ausschlusses hinweisen. So experimentierte Lewis bereits 1979 (!) mit Möglichkeiten, einem Computer das Improvisieren und die Interaktion mit Live-Musikern beizubringen – ein Vorhaben, das 1987 in das Programm „Voyager“ mündete und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt wird.
Improvisiert
Möglich wurde die Pionierleistung, weil Lewis nicht von westlichen Prinzipien der Harmonie- und Melodieführung ausging, sondern von Ideen der kollektiven Improvisation, die er in der afrikanisch-diasporischen Kultur verwurzelt sieht. Zuletzt verfeinerte er Methoden, um den Computer die Eigenheiten einzelner Musiker anhand musikalischer „Gesten“ erspüren zu lassen.
„Es gibt mittlerweile relativ viel Künstliche Intelligenz zur Musikproduktion, aber wenig von der Sorte, die sich mit Erkennung befasst“, sagt Lewis. Wie bei der automatischen Gesichtserkennung, in der rassistische Stereotypen nachwirken, gebe es auch bei der Musik gewachsene Schräglagen: „Es kommt immer zurück zur Frage, wer die Maschinen baut.“
Auch mit dem in New York ansässigen International Contemporary Ensemble, zu dessen künstlerischem Leiter er 2022 bestellt wurde, will Lewis die Art und Weise aufmischen, wie Musik präsentiert und gehört wird.
In einem Essay postulierte er dazu einen Acht-Schritte-Plan: Er verlangt etwa die bewusste Diversifizierung der Lehrenden an Musikschulen und Konservatorien. Zudem fordert Lewis die Abkehr von einem System, das „Verdienste“ würdigt, deren Erbringung Frauen und Angehörige von Minderheiten tendenziell gar nicht erst ermöglicht wird.
Revolutioniert
Der mit Europa bestens vernetzte Lewis, der dank Kooperationen mit dem Wiener Ensemble Studio Dan oder Musikern wie Harry Pepl () oder Wolfgang Puschnig eine lange Österreich-Verbindung vorzuweisen hat, lässt keinen Zweifel aufkommen, dass derlei Kritik nicht nur auf den US-amerikanischen Betrieb gemünzt ist.
„Ich glaube auch, dass die klassische Musik heute keinen ,festen Wohnsitz’ mehr hat – es ist eine diasporische Musik, genauso wie Jazz oder Blues“, sagt Lewis. „Doch die Wahrnehmung muss erst mit der Realität aufholen. Egal, wo man heute auf die Straße geht – man sieht alle möglichen Menschen, Hautfarben, Kleidungsstile. Sobald man in einen Konzertsaal geht, verschwindet all das. Wir wollen, dass auch die klassische Musik ihre kreolische, gemischte Natur erkennt – und ihre Identität ändert.“
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