KURIER:Welche Auswirkungen hat es auf die Gesellschaft und vor allem auf die Jugend, dass in der Corona-Zeit die Möglichkeit zu Konzerten zu gehen wegfällt, und damit auch die Chance, dabei Druck abzulassen und Spaß zu haben?
Professor Michael Huber: Es geht nicht nur um den Spaß und den Druckabbau. Vor allem für die Jugendlichen war es immer sehr wichtig, auf Festivals und auf Konzerte zu gehen. Dabei ging es aber oft gar nicht um die Musik. Das sieht man daran, dass Festivals schon ausverkauft sind, bevor man weiß, wer auftritt. Für die Jugend ist es wichtig, sich mit Freunden zu treffen und etwas gemeinsam zu machen, und die Musik ist dazu ein Anlass. Aus der Jugendforschung weiß man, dass es bei Konzerten und Festivals nicht nur um Eskapismus und das Auspowern geht, sondern auch um Identitäts-Entwicklung. Darum, herauszufinden, wer ich bin und was mir gefällt. Es geht auch um Integration und darum, ein Gemeinschafts-Gefühl zu entwickeln. Wenn wir in ein Konzert gehen, haben wir das körperliche Gefühl, mit den Menschen, die auch da sind, einer Meinung zu sein. Wenn das alles ausfällt, ist es dramatisch. Und wenn das über Jahre ausfällt, hat es sicher Konsequenzen.
Welche Konsequenzen sind das Ihrer Meinung nach?
Es ist noch nicht absehbar, welche das sein werden. Aber aus der Vergangenheit weiß man, dass der Musikgeschmack, den wir ein Leben lang haben, durch musikbezogene positive Erlebnisse in der Jugend geprägt wird. Und diese Erlebnisse sind bei Live-Konzerten sehr stark. In der Musiksoziologie unterscheiden wird drei Arten von Musik. Das erste ist die Umgangsmusik, das ist die Musik, die man selbst macht. Dabei ist dieses Erlebnis besonders stark. Das kommt selten vor, aber die, bei denen es vorkommt, sind dadurch extrem geprägt. Am anderen Ende des Spektrums ist die Übertragungsmusik, also das Hören über Internet, Spotify und andere Medien. Das hat man ständig und jeder kann es haben, aber der Eindruck ist relativ gering und nicht nachhaltig, weil das oft auch nebenbei mitläuft. Ein gutes Mittelding, das relativ viele Leute haben können, das aber in Sinne der musikalischen Sozialisierung recht starke Eindrücke hinterlässt, ist die Darbietungsmusik - also Festivals und Konzerte. Auf ein Festival zu gehen, ist geschmacksprägend, identitätsprägend und integrativ. Wenn junge Menschen das zwei Jahre lang nicht machen konnten, kann es sein, dass für diese Menschen die Musik nicht mehr die wichtige Rolle spielt, die sie für meine Generation gespielt hat.
Heißt das, dass der Stellenwert der Musik, der durch die permanente Verfügbarkeit der Streamingdienste ohnehin schon geschwächt war, noch weiter geschwächt wird?
Das ist zu befürchten. Man sieht ja jetzt schon, dass das Publikum nicht mehr zu Konzerten kommt, obwohl es bis zu einem gewissen Grad wieder möglich ist. Das liegt daran, dass sie es einfach nicht mehr am Schirm haben, auf ein Konzert gehen zu können.
Liegt das nicht eher daran, dass die Leute von den ewigen Verschiebungen genervt sind, schon fünf Gutscheine für Konzerte zuhause liegen haben und denken, dass ihr Konzert ohnehin wieder verschoben wird?
Da muss man unterscheiden, wer zu Konzerten geht. Ich habe ein Ticket für My Ugly Clementine liegen - für ein Konzert, das schon vier Mal verschoben wurde. Ich werde sicher gehen, wenn es stattfindet. Aber ich bin anders aufgewachsen. Für mich ist Musik so wichtig, dass ich mich davon nicht abhalten lasse. Aber wie wir aus der Forschung wissen, gibt es viele Arten von Musikhörern. Die Leute, für die Musik wahnsinnig wichtig ist, werden sicher zurückkommen - wahrscheinlich mehr denn je, weil sie total ausgehungert sind. Aber es gibt auch sehr viele Leute, für die Musik ein Freizeit-Impuls unter vielen ist. Und wenn dieser Teil ihres Freizeitangebotes so aufwendig und mühsam ist, wenden sie sich anderen Dingen zu.
Sie meinen, weil den Leuten das Maskentragen und Testen auf die Nerven geht . . .
Genau. Auch, weil man nicht in einer Gruppe mit einem Bier und den Freunden zusammenstehen, sich bewegen und schreien darf. Das gehört aber alles zu so einem Erlebnis dazu. Und dann gibt es eine Generation Corona, die sich aus Mangel an Gelegenheit nie angewöhnt hat, regelmäßig auf Konzerte zu gehen. Aber wenn man sich das nicht angewöhnt hat, kommt man später auch nicht in die Konzerte, wenn die wieder normal stattfinden dürfen. Ich befürchte, dass den Konzertveranstaltern in Zukunft eine ganze Generation als Stammkunden ausfallen könnte. Es wird immer große Shows und Festivals geben, um die mache ich mir keine Sorgen. Aber es kann sein, dass kleine Veranstalter, die kleine Bands buchen und Konzerte für ein treues, lokales Publikum auf die Beine stellen, ihr Publikum verlieren. Und das hat wiederum Auswirkungen auf Newcomer, die über solche Veranstalter und Festivals nicht nur Auftrittserfahrung sammeln, sondern sich auch ein Publikum aufbauen können.
Entsteht durch die Live-Konzerte nicht auch eine stärkere Identifikation mit den Künstlern? Oder ist das ohnehin nicht mehr so wichtig, weil die Künstler über Facebook und andere Plattformen alles teilen und so eine Nähe erzeugt wird, die das fehlende Live-Erlebnis kompensiert?
Ich glaube, wenn man mit dem Künstler im selben Raum ist, zur gleichen Zeit am gleichen Ort die Konzert-Erfahrung teilt, die noch dazu nicht reproduzierbar ist, hat das schon eine ganz andere Qualität. Einem Künstler auf Instagram zu folgen, oder den Newsletter abonniert zu haben, ist eine von tausend Aktivitäten, die junge Menschen am Smart-Phone machen. Da verschwimmt ein Künstler im Gesamteindruck. Aber ein Live-Konzert braucht Aufwand: Man muss ein Ticket kaufen, man muss hinfahren, das Wetter spielt eine Rolle, man riecht und spürt etwas. Man kann ganz vorne stehen und hoffen, dass einem der Künstler die Hand gibt oder einen zumindest anschaut. All das verstärkt den musikalischen Eindruck und auch die Bindung zu den Künstlern.
Internet-Konzerte sind da natürlich auch kein Ersatz.
Die macht man in der Not, dass man nicht gar nichts macht. Aber es ist nicht das Gleiche wie ein Live-Erlebnis. Das ist wieder Übertragungsmusik, wo ein Medium dazwischen ist, eben nicht das Gemeinschafts-Erlebnis im Publikum zu stehen, wo man sich von der Stimmung der andern anstecken lässt. Da sitzt nur jeder einsam vor seinem Bildschirm. Aber nicht nur das Publikum braucht Konzerte, auch die Musiker brauchen sie dringend - nicht nur finanziell. Sie brauchen das Feedback des Publikums, und das kriegt man übers Internet nicht. Diese wahnsinnige Energie, die vom Publikum kommt, ist aber genau das, was Künstler so high macht, wodurch auch der Schüchternste auf der Bühne aufblüht und zu strahlen beginnt. Wenn das nicht mehr sein kann, ist das meiner Meinung nach das Ende der Zunft.
Welche Auswirkungen hat Corona Ihrer Meinung nach auf die Musik, die gerade entsteht? Pop-Songs greifen häufig die Sorgen der Jugend auf, wenn es um Liebeskummer, Abgrenzung von den Eltern oder Ähnliches geht. Warum werden das Thema Corona und die Probleme, die Jugendliche damit haben - zumindest bisher – gemieden?
Weil das ein ganz andere Situation ist. Bei den Songthemen, die Sie genannt haben, gibt es Ansprechpartner, persönliche Erlebnisse mit anderen Menschen, soziale Situationen, wo es ein Gegenüber oder auch Feinde gibt. Aber wer ist in der Corona-Krise der Feind? Das Virus als Feind ist nicht greifbar. Der zweite Aspekt ist, dass viele der emotionalsten Alben aus tiefer Enttäuschung heraus entstanden sind. Die kann ich aber nur haben, wenn es vorher Hoffnung gegeben hat. 1971 sind mit Joni Mitchells „Blue“, Sly Stones „There’s A Riot Goin‘ On“ und „What’s Going On“ von Marvin Gaye rausgekommen.
Das waren drei der besten Alben der Geschichte, die aber alle sehr depressiv waren.
Richtig. Und sie basierten auf der Enttäuschung über all das, was vorher passiert war. Da war mit dem Altamont-Konzert die Hippie-Blase geplatzt, Jimi Hendrix und Janis Joplin sind gestorben, die Beatles haben sich aufgelöst und die Hoffnungen der Schwarzen und der Bürgerrechtsbewegung sind geplatzt. Das war die einzige Phase in der Musikgeschichte, wo es politische Alben gegeben hat, die gegen eine Krise geschrieben wurden. Später im Punk gab es das dann kurz noch einmal, aber auch da gab es einen Feind. Da ging es gegen das System und gegen Margret Thatcher. Das dominierende Gefühl in dieser Corona-Krise ist aber Erschöpfung und Lethargie. Und aus einer Lethargie heraus, ist es schwierig, kreativ und produktiv zu werden. Corona ist nicht die Situation, die bei Musikern den Impuls hervorbringt, das zu thematisieren, denn sie wollen einfach nur, dass das endlich alles vorbei ist, und sie wieder normal arbeiten können.
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