Gebürtig - Von Robert Schindel

Gebürtig - Von Robert Schindel
Aufgrund der Figurenvielfalt ist der Einstieg nicht leicht – lohnt sich aber: "Gebürtig" ist einer der wichtigsten Romane der Nachkriegsliteratur.

Manche Bücher sind wie ein straff gespanntes Seil – sie ziehen Leserinnen und Leser mit großer Kraft und ohne Umwege durch die Handlung. Andere sind wie aus Einzelfäden gewebt: Ein Netz wird da gesponnen, viele Figuren werden gezeigt, unterschiedlichste Akzente und Perspektiven genutzt, bis schließlich ein großer, farbenprächtiger Teppich entsteht. "Gebürtig" ist solch ein Roman: Robert Schindel zeigt uns – angesiedelt in den frühen 1980er-Jahren – ein faszinierendes Geflecht menschlicher Beziehungen. Bildthema dabei ist stets – einmal mehr, einmal weniger im Vordergrund stehend – die Nachwirkung des Holocaust auf die Generation der Kinder von Opfern, Tätern und Mitläufern.

Einer der wichtigsten Protagonisten, obwohl erst spät auftretend, ist Hermann Gebirtig: ein gefeierter, österreichisch-jüdischer Autor von Theaterstücken, ehema­liger KZ-Häftling und in Amerika lebend. Nach Europa, gar nach Wien, dieser "Vergessenshauptstadt" will er nie wieder zurück. Das ändert sich erst, als Susanne Ressel ihn in New York aufsucht. Sie will ihn überzeugen, im Prozess gegen einen brutalen Wärter des Konzentra­tionslagers Ebensee als Zeuge aufzutreten.

Susannes Vater hatte ihn auf einer Bergtour erkannt und durch diesen Schock einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Hermann Gebirtig sträubt sich, verliebt sich aber in Susanne und kehrt zurück nach Österreich. Hier fühlt er sich wohler, als er gefürchtet hatte, bis der Freispruch des Naziverbrechers ihn abermals resignieren lässt.

Gebürtig - Von Robert Schindel
Ein Königreich für ein Bild!

Die Konstellation Gebirtig-Ressel ist aber nur eine von vielen: Großen Raum nimmt etwa auch die Dreiecks-Beziehung zwischen Wilma Horvath, Christiane Kalteisen und dem jüdischen Lektor Danny Demant ein. Letzterer korrigiert das Manuskript von Emmanuel Katz. Dieser wiederum, ein jüdischer, über seine Familie schreibender Autor, gehört zu einem dritten Personenkreis, in dem sich auch der Deutsche Konrad Sachs bewegt. Dessen Vater wurde bei den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher hingerichtet. Konrad – seinen Sohn – quälen Albträume und Gewissensbisse, und so sucht er Kontakt und Vergebung bei jüdischen Freunden und Bekannten.

Alle diese Figuren tragen die Vergangenheit ihrer Familie, ihrer "Geburt", mit sich, leiden mehr oder weniger reflektierend, unter dieser Last. Unberührt aber lässt sie keinen – der Holocaust bestimmt auch die nachgeborenen Generationen. Robert Schindel zeigt dabei sämtliche Facetten auf, wird nie belehrend oder urteilend. Im Gegenteil: Humor und Erotik werden vom 1944 in Bad Hall geborenen Autor ebenso gekonnt eingesetzt wie philosophische Überlegungen oder derbe Sprüche. So vielschichtig wie die Protagonisten sind auch die beschriebenen Orte. Zwar spielt der Großteil der Handlung in Wien, aber immer wieder werden andere Schauplätze aufgesucht: München, Venedig, Frankfurt, die Bergwelt der Rax, Amerika – das Thema der Vergangenheitsbewältigung betrifft, so wird uns deutlich, nicht nur alle Menschen, sondern auch geografisch die ganze Welt. 1988 erschienen, war "Gebürtig" ein mutiges Buch. Bemerkenswert ist die moderne Sprache und die Ironie und Lebendigkeit, deren Schindel sich bedient – besonders gut in der vom Autor selbst eingelesene Hörbuchfassung zu erfahren.

Aufgrund seiner Figurenvielfalt und einem artifiziellen Zwillingserzähler ist der Einstieg nicht leicht – lohnt aber die Mühen: "Gebürtig" ist einer der wichtigsten Romane der Nachkriegsliteratur.

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