Filmkritik zu "The World to Come": Die neue Welt gibt es nicht
Die norwegische Regisseurin Mona Fastvold arbeitet die verbotene Beziehung zweier Siedlerfrauen in der Gründergeschichte der USA auf
22.07.21, 05:00
Von Susanne Lintl
Der eisige Wind fegt gnadenlos ums Haus, so, als wolle sich die Natur dagegen wehren, dass der Mensch sie zum Untertan machen will. Jede Beschaffung von Brennholz, Wasser oder Nahrung ist ein Kraftakt dort draußen im rauen Nordosten der USA. In diesem unerschlossenen Teil des Landes versuchen sich der Farmer Dyer und seine Frau Abigail eine Existenz aufzubauen. Mit der Vision vor Augen, eine neue Welt zu gestalten, eine bessere, freudvollere.
Die Sinnfrage in ihrem von Arbeit und Entbehrung geprägten Leben stellt sich für Abigail und Dyer, als ihre kleine Tochter an Diphtherie stirbt. Von da an ist nichts mehr, wie es war. Das Paar ist entfremdet und zu keinen Zärtlichkeiten mehr fähig. Flüchtet sich in die Trauer erstickender Routine harter Arbeit. Das Gemeinsame, das so selbstverständlich war, ist mit dem Kind verschwunden.
Als sich in der Nachbarschaft ein neues Farmerspaar niederlässt, kommt wieder Leben ins Haus. Die flamboyante Tallie und Abigail verstehen sich auf Anhieb, entwickeln binnen kurzer Zeit eine innige Frauenfreundschaft. Die rothaarige, elegante und offene Frau weckt in Abigail Gefühle, die sie noch nicht kannte.
Bald wird aus der innigen Beziehung zweier Seelenverwandter eine zu innige – ein absolutes No-Go im rigiden Wertekanon des 19. Jahrhunderts.
Mona Fastvold inszeniert die große Intimität zwischen den beiden Frauen unplakativ und sanft, ohne reißerische Szenen. Als Momente des Glücks für die beiden Frauen, in denen sie die Welt um sich ganz vergessen. Momente, die ihnen eine qualvolle Ahnung davon geben, wie ihr Leben aussehen könnte, wenn sie nicht in ihren Rollen und Konventionen gefangen wären.
Leider nicht
Beide wissen, dass das Ganze kein gutes Ende finden kann. Auch angesichts der beiden Männer, die – wie Dyer – zutiefst misstrauisch und eifersüchtig und andererseits – wie Tallies Ehemann Kinney – sadistisch und brutal sind. Zwei Männer, die mit der Situation überfordert sind. Eindimensionale Bösewichte sind sie in Fastvolds Charakterisierung aber auch nicht.
Das Leider-nicht-Emanzipationsdrama wird getragen von der schauspielerischen Leistung seiner vier Protagonisten: Katherine Waterston als introvertiert-melancholische Abigail, die sich vom Feuer Vanessa Kirbys mitreißen lässt. Kirby beweist hier wieder einmal ihr großes Talent und ihre große Wandlungsfähigkeit. Fast zeitgleich mit „The World to Come“ machte sie 2020 auch mit dem Drama „Pieces of a Woman“, in dem sie bei der Geburt ihr Kind verliert, Furore.
Casey Affleck lässt bei seinem misanthropischen Dyer immer wieder auch Momente des Mitleids und Verständnisses durchblitzen; Christopher Abbott gibt den unsympathischen Finney mit diebischer Spielfreude.
Ein zärtlicher Liebesfilm, der zugleich beklemmendes Kammerspiel und Feel-Bad-Movie ist. In diesem Fall eine sehenswerte Mischung.
INFO: USA 2020. 108 Min. Von Mona Fastvold. Mit Vanessa Kirby, Katherine Waterstone
Filmkritik zu "Gaza Mon Amour": Stromausfall und Schneiderin
Beide haben ihre besten Jahre schon hinter sich: Issa, der Fischer, der schon lange keinen großen Fang mehr gemacht hat. Statt dicken Fischen geht ihm eine griechische Statue ins Netz, die ihm nur Scherereien einbringt.
Und die Schneiderin Siham, die mit einem kleinen Laden für Frauenkleider ihr Auskommen findet und sich ansonsten mit der rebellischen, arbeitsscheuen Tochter herumschlagen muss.
Issa entdeckt seine Sympathie für Siham, doch diese erwidert sie nicht. Eine ganz banale Liebesgeschichte, möchte man meinen.
Nur: Diese Liebesgeschichte spielt in einem Teil der Welt, der gemeinhin als Schauplatz für Gewalt, Unterdrückung, ja Krieg bekannt ist, dem Gazastreifen. Dort ist es normal, dass man jeden Tag Kerzen anzündet, weil der Strom wieder ausfällt. Dass man – es könnte überlebenswichtig sein – stets den Akkustand des Handys checkt und immer seine wichtigsten Sachen parat hat, falls es wieder Bombenalarm gibt. Aber in Gaza gibt es nicht nur Elend und Härte, sondern auch das normale Leben mit seinen Drehungen und Wendungen.
Die Zwillingsbrüder Tarzan und Arab Nasser, die in Gaza geboren sind und nun in Südfrankreich leben, haben einen humorvollen Film über den Alltag in diesem so schlecht beleumundeten Teil der Welt gedreht – in einem Flüchtlingslager in Jordanien. Man kann es sich nur schwer vorstellen, dass dort ein amüsanter und lebensbejahender Film entsteht, aber es ist so. Ganz langsam lassen die Filmemacher Issa und Siham zueinanderfinden, allen Widrigkeiten und Vorurteilen ihrer Mitbürger zum Trotz. Ein außergewöhnlicher Film, der Einblick in einen vergessenen Teil der Welt gibt.
INFO: D/F/POR/QA /PS 2020. 87 Min. Von Tarzan und Arab Nasser. Mit Hiam Abbass.
Filmkritik zu "Me, We": Über das Bedürfnis zu helfen
Die Tochter aus gutem Haus, die Bootsflüchtlinge auf Lesbos retten will; die gut situierte Mittvierzigerin, die den vermeintlich minderjährigen Flüchtling in ihrem Haus aufnimmt; der Flüchtlingshelfer im Asylheim, der persönliche Antipathien nicht hintanhalten kann; und der renitente Teenager, der gegen die Zuwanderung in Österreich mobil macht und eine Schutzorganisation für junge Frauen gegen übergriffige Migranten gründet.
Vier Menschen, die auf ihre Art vom Helfersyndrom heimgesucht werden. Wollen sie helfen, um wirklich Gutes zu tun oder handeln sie nur, um ihr eigenes, privilegiertes Gewissen zu beruhigen, ist die Frage, die der aus Paraguay stammende österreichische Regisseur David Clay Diaz hier stellt.
Denn ganz selbstlos sind die Hilfeanbieter, die er porträtiert, schon auf den ersten Blick nicht.
Marie, die Bürgerliche auf Lesbos, richtet vor Ort nichts aus mit ihrem blauäugigen Gutmenschentum und fährt wieder heim. Petra instrumentalisiert den Flüchtling im Haus für ihre eigenen Zwecke, sprich: ihre eigene Lust. Gerald, der Heimbetreuer, kracht mit dem traumatisierten Flüchtling Aba zusammen. Und Marcel muss einsehen, dass die Mädchen gar nicht von ihm beschützt werden wollen. Ein episodenhaftes Drama, das dem Satz „Gut gemeint ist das Gegenteil von gut“ nur allzu gerecht wird.
INFO:Ö 2021. 115 Min. Von David Clay Diaz. Mit Verena Altenberger, Lukas Miko, Thomas Otrok
Filmkritik zu "Sommer 85": Heißer Sommer ohne Happy End
Depeche Mode und The Cure tönen aus den Lautsprechern, die Jungen tragen Doc Martens und T-Shirts mit britischen Leadsängern drauf: Im Sommer 1985 an der Normandie ist das Leben leicht und prickelnd.
Auch für den schüchternen Alexis, der bei einem Bootsunfall vom zwei Jahre älteren, wohlhabenden David gerettet wird und sich unsterblich verliebt. Leider ohne Happy End, denn da funkt noch ein hübsches, englisches Au-pair-Mädchen dazwischen, das David, der nach allen Seiten offen ist, den Kopf verdreht. Und dann gibt es da noch einen sehr folgenschweren Unfall, der Alexis wieder in die Realität zurückholt.
François Ozons nach Meer, Lebensfreude und adoleszentem Hang zu Leichtsinn duftenden Hommage an die 80er Jahre ist ein Film, den man genießt wie kaltes Gin Tonic.
INFO: F 2020. 100 Min. Von François Ozon. Mit Félix Lefebvre, Benjamin Voisin, Melvil Poupaud.
Kommentare