Sie wollten eigentlich in Brasilien recherchieren …
Ich war im Irak, um die „Orestie“ zu machen. Und nun wollte ich in Brasilien mit indigenen Schauspielern „Antigone im Amazonas“ machen. Ich sagte zu Ursina: Komm doch mit! Die Idee für die Festspiele war, die Figur des Jedermanns mit jener des Großkünstlers, der nach Brasilien geht, zu verknüpfen. Der Künstler versucht den Tod mit seinen Werken zu überzeugen, noch nicht an der Reihe zu sein. Beim „Jedermann“ sind die Werke ja sehr schwach, aber ich fand dieses Motiv interessant. Im Unterschied zum Kapitalisten hat der Künstler ja nichts – außer seine Werke. Aber eben: Nach einer Woche kam uns Corona dazwischen. Ursina reiste ab, ich musste auch die „Antigone“ abbrechen. Wir standen praktisch mit leeren Händen da.
Und Sie besuchten daher, zurück in Europa, ein Hospiz?
Als der Lockdown vorbei war, mussten wir feststellen, dass uns der Ansatz nicht mehr interessiert. Da sagte ich: Gehen wir doch auf das Thema ein, auf das sonderbarerweise der „Jedermann“ nicht eingeht, auf den Tod an sich. Jeder weiß, dass er sterben muss. Aber jeder denkt, das gilt nicht für einen selber. Wir trafen Menschen, die in einer ähnlichen Lage sind wie der Jedermann, darunter Helga Bedau. Die Frau hat ein gutes Leben geführt, sie ist ein Mensch wie ich oder Sie. Dann hatte sie eine Untersuchung wegen ihrer Rückenschmerzen. Und man hat festgestellt: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Inoperabel. Drei Monate. Und das war’s dann. Das ist krass. Auch wenn es dann doch wieder einen Aufschub von einem Monat gibt, weil eine Chemo anschlägt.
Diese Frau wird in einer Videozuspielung zu sehen sein.
Sie ist in der Begegnung zur eigentlichen „Everywoman“ geworden. Da nicht klar war, wie es ihr bei der Premiere gehen würde, ist sie auf Video. Diese Vermitteltheit ist auch ein Nachdenken über Abwesenheit – und über die Schwierigkeit, miteinander in Dialog zu treten.
Welche Rolle fällt Ursina Lardi zu?
Sie philosophiert – über ihr eigenes Leben und über den Tod. Und es gibt auch eine andere, eine gesellschaftliche Dimension – gerade jetzt, in den Zeiten des Klimawandels. Denn wir begreifen, dass der zivilisatorische Entwurf, dem wir bisher gefolgt sind, nicht aufgeht. Wir können nicht mehr weitermachen wie bisher.
Nehmen Sie auch zu Covid Bezug? Denn in manchen Ländern gibt es abertausende Tote, etwa in Brasilien.
Nicht explizit. Im Zentrum des Brasilien-Stücks wäre eine Künstlerin gestanden, die sich durch Werke, indem sie Gutes tut, Unsterblichkeit erkaufen will. Und dann merkt sie, dass sie den Tod bringt. Mich hat immer die Ödipus-Figur interessiert: Der Mann, der denkt, dass er die Stadt vor der Pest rettet – und dann findet man raus, dass er ein Perversling ist, der seine Mutter gevögelt hat. Tatsächlich hat er die Pest gebracht – und ist das Problem. Was ich an Covid interessant fand: Dass die Gesellschaft mit ihrer andauernden Todesverdrängung strukturell konfrontiert wurde. Man hat Angst, Menschen zu verlieren, weil man davon ausgeht, dass sie verloren sind. Wir haben ja keine Metaphysik mehr. Wenn jemand stirbt, ist es jemand zu viel.
Im hoch technisierten Europa wird der Wert des einzelnen Menschen viel höher bewertet als in Schwellen- oder Entwicklungsländern. Vielleicht auch, weil die Geburtenrate derart niedrig ist?
Klar! Wenn man ein paar Jahrzehnte zurückguckt: Auch bei uns starben in jeder Familie zwei, drei Kinder, die waren einfach weg. Man ging mit ihnen um, als seien sie Katzen. Es ist schon erstaunlich, wie sich diese Emotionalität verändert hat. Wenn wir heute ein Kind hochziehen, dann muss es zumindest 70 Jahre leben, denn sonst hat sich das ja nicht gelohnt. Ja, hier in Mitteleuropa ist heute das einzelne Leben mehr wert. Jedes Individuum ist eben absolut gesetzt. Ich habe zwei Töchter. Wenn eine stürbe: Es wäre aus für mich.
Jede und jeder muss sterben, aber der Jedermann ist eigentlich kein solcher. Denn er ist unglaublich reich.
Ja, das hat auch mich am Konzept des „Jedermanns“ gestört. Er kann sich die Welt und die Frauen kaufen – jeden Sommer eine neue. (Er lacht auf.) Ich fände es umso interessanter, desto weniger außergewöhnlich er ist.
Interessant könnte es werden, wenn er sich verantworten muss – vor dem jüngsten Gericht oder vor sich selbst.
Ich bin da nihilistischer oder lebe einfach nur 100 Jahre später als Hugo von Hofmannsthal. Ich glaube, dass der Tod ein schwarzes Nichts ist – egal, wie man sich verhalten hat. Schon in „Lam Gods“ über den Genter Altar, einem religiösen Stück, haben wir einer Frau, die im Sterben lag, Fragen gestellt. Und ihre Antworten waren von einer unendlichen Banalität. Sie konnte uns nichts sagen, was wir nicht selber wüssten. Der Tod ist kein Raum des Wissens und der Erkenntnis. Der Tod ist einfach das Ende.
Tatsächlich?
Ich bin Atheist – und lebe in einer atheistischen Welt. Gott reicht nicht mehr als Erklärung. Auch die „Jedermann“-Inszenierung von Michael Sturminger glaubt nicht an Gott. Man spielt das Stück zwar vor dem Dom, aber da ist keine gläubige Grundhaltung. Es ist einfach ein lustiges Volksstück.
Die Idee von der Erlösung?
Die Erlösung findet nicht statt, niemand im Publikum glaubt daran. Aber gegen Schluss, wenn Jedermanns Mutter verstanden hat, dass der Sohn erlöst ist: Das ist für mich ein berührender Moment. Da schafft die Inszenierung etwas mitschwingen zu lassen: Auch im Tode bist du nicht allein. Weil wir eine Menschheit sind. Weil uns etwas – über die einzelne Existenz hinaus – verbindet.
Ich muss noch einmal fragen: Sie sterben – und sind einfach weg?
Rational beantwortet: ja! Aber natürlich glaubt irgendetwas in mir nicht daran. Vielleicht bin ich ein Biologist. Denn wenn ich mir meine Töchter anschaue: Ich sehe mich schon jetzt in ihnen leben. Also: Wenn ich sterbe, dann bin ich als Individualität weg. Aber ich werde nicht ganz sterben. Das beruhigt mich ungemein.
Und man wird auch durch Werke unsterblich.
Ich habe gerade von Tolstoi „Der Tod des Iwan Iljitsch“ gelesen und war derart beeindruckt. Oder wenn ich ein Lied von Leonard Cohen höre, der ja auch tot ist. Dann denk ich mir: Zum Glück wurde das aufgezeichnet! Die beiden können mit mir über den Tod hinaus einen Dialog haben. Das ist etwas Schönes.
Eine letzte Frage: Gibt es in Ihrem Stück eigentlich eine Entwicklung?
Gedanklich schon. Aber hinter das Geheimnis des Todes kommen wir auch nicht.
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