Song Contest: So beurteilen Online-Gesangslehrer JJs "Wasted Love"

Eines ist ihnen allen gemeinsam: Das erstaunte Gesicht ungefähr bei Sekunde 50. Da nämlich, wenn sich bei JJs "Wasted Love" die Tonlage krass ändert.
Der österreichische Song-Contest-Beitrag beschäftigt auf YouTube bereits eine ganze Reihe Gesangstrainer, die das Lied und vor allem die Stimmperformance eifrig analysieren.
Der Student der Wiener Musikuni tritt bekanntlich mit einem Lied an, bei dem man sich erst in sicheren Balladengefilden - wenn auch etwas gothic eingeschwärzt - wähnt, bevor man mit Countertenortönen aufgeschreckt wird. Dass dieser Überraschungseffekt auch einer der Erfolgsfaktoren für JJs „Wasted Love“ ist (aktuell werden dem Beitrag bei den Wettquoten die zweitbesten Gewinnchancen ausgerechnet) wird bei diesen Videos deutlich.
Österreichs ESC-Beitrag analysiert
Gesangslehrerin Tania Levy analysiert den Song anhand des Musikvideos: Sie bekommt „Gänsehaut", weil sie nicht damit gerechnet hat, dass „wir hier in Richtung Oper gehen“. Sie erklärt den Unterschied zwischen tiefem Kehlkopf (wie bei JJ, in der Oper üblich) und hohem Kehlkopf (üblich im Pop). Sie ist zuversichtlich, dass der Sänger die hohen Töne („brutal!“) auch in der Live-Situation auf der Bühne schaffen wird.
Vocal Coach Zoe Stibi hat wiederum das Video eines Live-Auftritts (Eurovision Pre-Party in Amsterdam) als Anschauungs- und Anhörungsmaterial. Dass JJ ein ausgebildeter Sänger ist, entgeht ihr nicht. Sie erklärt den Unterschied der Falsett-Stimme am Anfang des Songs und den Umschwung auf Countertenor danach. Sie weist darauf hin, wie sich die Haltung des Mundes ändert bei den unterschiedlichen Gesangsformen - von breit zu rund. Wer sich beim Verständnis des (ohnehin spärllichen) Texts hier schwer tut, ist nicht allein: Die Wortdeutlichkeit nimmt durch die Mundhaltung ab, was aber - so sagt zumindest die Gesangslehrerin - in der Klassikwelt akzeptiert ist. Zwischendurch applaudiert sie dem Österreicher.
Was ihr nicht so gut gefällt: Dass JJ die Augen geschlossen hat beim Singen, denn „die Augen sind das Tor zur Seele“. Bei ihr erfährt man auch, warum es eine Beduetung hat, dass JJ seinen Arm erhoben hat und dass Bühnennebel beim ESC-Auftritt ein Problem werden könnte.
"Kompositorische Cleverness" von "Wasted Love"
Gesangstrainerin Sarah Abrigada erzählt, während sie das Musikvideo (nicht live) sieht, ein bisschen aus der Geschichte der Countertenöre, die das Stimmfach der Frauen übernahmen („Frauen, die in der Kirche singen, wo kommen wir denn da hin“). Sie lobt die „kompositorische Cleverness“, dass sich das Lied nach dem ersten Sprung in die Höhe nicht mehr allzu viel in der „langweiligen“ Tiefe bewegt. Weil der Song durch die Stimmlage „etwas Abgefahrenes hat“, ist sie sich sicher, dass er eine hohe Platzierung beim ESC erreichen wird. Den Mix von archaischen Trommeln und epischer Klassik findet sie gelungen - „Dinge, die eigentlich nicht zusammengehören“. Und da hatte sie den Wechsel in die Techno-Passage des Songs noch gar nicht gehört...
JJ sorgt für Gänsehaut im besten Sinne
Vocal Coach Tim Welch schaut sich das Musikvideo und das Livevideo im Vergleich an. Sein Clip trägt den für JJ schmeichelhaften Titel: „Vocal Coach floored by JJ Wasted Love“ - also auf deutsch etwa „Gesangslehrer hin und weg von JJs Wasted Love“. Er ist nicht der erste, der erwähnt, dass ihm das Lied von vielen zur Analyse vorgeschlagen wurde. Er bekommt schon Gänsehaut im ersten Teil des Lieds, noch vor dem großen Überraschungsmoment. Der wird begleitet von mehrfachen „Wows“.
Der Stimmtrainer identifiziert die höchste Note, die JJ singt, als Cis6 und bezeichnet den Sänger als „fantastischen Countertenor“. Außerdem erklärt er ziemlich ausführlich, wie der menschliche Körper diese Töne hervorbringt - beziehungsweise, was ein Mensch dafür machen muss. Tim Welch ist von dem Live-Auftritt auch begeistert, weil er kleine Unperfektheiten hat: „Das ist ein Künstler, der ein Risiko eingeht, der keine Tricks anwendet, um glauben zu machen, dass er singen kann, was ein echtes Problem im Musikbusiness ist. Es ist rohes Singen. Echtes Singen.“
Ob das beim Eurovision Song Contest ein Vorteil oder Nachteil sein wird, wird sich nächste Woche zeigen.
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