Karl Kraus im Tierversuch

Karl Kraus im Tierversuch
Künstlerin Deborah Sengl stellt im Essl Museum Karl Kraus' Weltkriegsepos "Die letzten Tage der Menschheit" mit präparierten Ratten dar.

Der künstlerische Auftakt zum Weltkriegs-Gedenkjahr findet in einem Labor statt. Auf weißen Sockeln hat Deborah Sengl ihre Interpretation von Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ im oberen Saal des Essl-Museums aufgestellt; 44 Szenen sind es, allesamt dargestellt mit präparierten weißen Ratten, nur der „Nörgler“ – ein Alter Ego des Dichters Kraus selbst – darf zwei Mal als schwarze Ratte auftreten.

Versuchstiere

Die Assoziation von Menschen mit Laborratten sei „schlüssig und gewollt“, erklärt Sengl – hatte doch Kraus selbst Österreich einmal als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ bezeichnet. Das ambitionierte Kunstprojekt, das vordergründig ohne Text auskommt, öffnet freilich noch viele andere Assoziationsräume, und nicht immer scheinen sich darin die postulierten Absichten der Künstlerin zu erfüllen.

Sengl, die seit vielen Jahren eng mit einem Tierpräparator zusammenarbeitet, hatte exakte Vorstellungen zur Physiognomie und Gestik jedes einzelnen Charakters: Von kriegsbegeisterten Ratten in der Eröffnungsszene am Wiener Sirk-Eck („Nieda mit Serbien! Nieda! Hoch!“) geht es zum Lebensmittelhändler Chramosta, der, empört ob der Kritik an seinen überzogenen Preisen, einen Korb nach einem Marktbeamten wirft (1. Akt, 10. Szene). Im „Winter in den Karpathen“ (3. Akt, 10. Szene) wird dann erzählt, wie Soldaten einen Gefangenen zu Tode foltern. Der Parcours gipfelt in der „Apokalypse“, dargestellt auf drei großen Tafeln.

Bilder der Ausstellung

Karl Kraus im Tierversuch

Deborah Sengl - Die letzten Tage der Menschheit, 2
Karl Kraus im Tierversuch

Deborah Sengl - Die letzten Tage der Menschheit, 2
Karl Kraus im Tierversuch

PK AUSTELLUNG "DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT"
Karl Kraus im Tierversuch

PK AUSTELLUNG "DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT"
Karl Kraus im Tierversuch

Deborah Sengl - Die letzten Tage der Menschheit, 2
Karl Kraus im Tierversuch

AUSTRIA ARTS
Karl Kraus im Tierversuch

People stand behind a sculpture by artist Sengl is
Karl Kraus im Tierversuch

Keine Illustration

Wer will, kann die Texte an einem Kaffeehaustisch im Saal nachlesen; direkt bei den Objekten fehlen sie, weil die Künstlerin keine Illustrationen schaffen wollte.

Was aber dann?, muss man sich inmitten dieser luftigen, in ihrer Großzügigkeit durchaus beeindruckenden Installation fragen. Die Schärfe von Kraus’ Text geht in der künstlerischen Über- bzw. Umsetzung verloren – so zubeißen wie die Worte des Schriftstellers können Rattenzähne niemals.

Was Sengls Szenen vermögen, ist Stimmung zu vermitteln: Das Kriegsgeschehen erscheint durch die Miniaturisierung und die Niedlichkeit der Nager nahbar und übersichtlich; zugleich ist es durch die Erstarrung und die Laborsituation in eine seltsame Distanz gerückt, musealisiert wie im Naturalienkabinett.

Kraus’ Befunde ließen sich „eins zu eins auf heute ummünzen“, erklärte Sengl bei der Pressekonferenz zu ihrer Schau. Ihr selbst gelingt eine Aktualisierung aber nicht wirklich: Zum einen, weil sich die Ausstattung der Figuren an der Zeit um 1914 orientiert und weil präparierte Tiere per se Retro-Flair versprühen; zum anderen, weil Wortlosigkeit nicht gleich Zeitlosigkeit bedeutet.

Drei Varianten

Die Prägnanz der Bilder selbst variiert stark, weil Sengl eigentlich nicht eine, sondern drei Kraus-Interpretationen schuf. In der Schau hängen hinter den Objekten Zeichnungen und Malereien, die auch als Vorlage für den Präparator dienten. Die Ratten selbst waren übrigens Futtertiere für die Greifvogel- und Schlangenzucht und wurden nicht im Namen der Kunst getötet.

Für den Katalog (25 €) inszenierte der Fotograf Mischa Nawrata die Ratten vor schwarzem Hintergrund und rückte Details in den Fokus. Der Effekt ist hier viel näher am Theater als in der weißen Museumshalle. Diese Vielfalt kann man unentschlossen, aber auch „kaleidoskopisch“ nennen. In letzterem Sinn wäre Sengls Werk der Vorlage, die auch oft als „Kaleidoskop“ bezeichnet wurde, wieder nahe.

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