Erste große Dürrenmatt-Biografie
Oft war von ihm zu hören: "Ich habe keine Biografie." Doch. Zumindest 20 Jahre nach seinem Tod hat er eine: die erste große; ein monumentales, wissenschaftliches Werk, das kaum mit Anekdotischem aufwarten kann. Weil Friedrich Dürrenmatt - anders als sein guter Bekannter Max Frisch - für keine Geliebte beim Wandern Champagner in den kalten Gebirgsbach gestellt hat. Er war verheiratet. 37 Jahre. Und Schluss.
Er reiste selten und versteckte sich "hinter dem Mond" (im Haus in Neuchâtel). Am liebsten saß er am Schreibtisch und zog sich, frei nach Jean Paul, in die einzige zweite Welt innerhalb der hiesigen zurück: in die Poesie. Beim Schreiben und Malen war er unangreifbar. Seine Arbeit nannte er "Gedanken-Schlosserei". Sein Bemühen war es, nicht perfekt zu werden.
Außenseiter
Fast immer war er krank, seit seinem zwölften Lebensjahr litt er an Diabetes. Damals fiel er ins Koma. Die Beleibtheit hängt mit der Krankheit zusammen. Dann Herzinfarkte, Hepatitis, Asthma, Sehschwäche ... Auch das machte ihn zum Außenseiter.
Die Biografie heißt "Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen". Der Schweizer Journalist Peter Rüedi verbrachte damit viele Jahre. Man darf nicht vergessen: Sein "Objekt" hat zwar viele Zettel selbst verbrannt, die ihm zu privat erschienen. Aber er hinterließ allein schon 10.000 Seiten mit Ausführungen über die Schriftstellerei. Die mussten durchgearbeitet werden. Der kürzlich verstorbene Chef des Diogenes Verlags Daniel Keel war Auftraggeber, Mutmacher, Anfeuerer.
Ungelesen
Das Buch räumt mit Vorurteilen auf: Friedrich Dürrenmatt war nicht gemütlich. Der Sohn eines Pfarrers war eher unnahbar. Und er war keineswegs unpolitisch, bloß
verschlüsselter - außer, als er die Schweiz mit einem Gefängnis verglichen hat (wobei man nicht wisse, wer Wärter und wer Gefangener sei).
Schmerzlich bewusst wird, was man alles nicht gelesen hat von dem Autor, dessen Bücher noch immer durch die Pubertät begleichen - aber es sind halt meistens das Theaterstück "Der Besuch der alten Dame" und der Kriminalroman "Der Richter und sein Henker".
Seine "Evergreens", wie er selbst gesagt hat, verdecken den Rest, vor allem das Spätwerk. "Durcheinandertal" etwa oder "Turmbau". Seine letzten Worte an Peter Rüedi waren 1990 ein Seufzer: "Ja, wenn man nichts anderes weiß, als schreiben ..."
Die Biografie endet mit einem Gedicht über die ungewisse Welt "da draußen", bei der man auf alles gefasst sein müsse. Dürrenmatt: "Darum sammle ich die Weine / rauche ich die braunen getrockneten Blätter / Vergänglichkeiten / nur das Nichtige hat / Bestand."
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