Erinnerungen an das Russland der UdSSR

Die 1981 in Moskau geborene Fotografin Elena Tschernyschowa dokumentiert das elende Leben in Norilsk mit viel Wucht.
Die Moskauer Biennale für zeitgenössische Kunst mit österreichischer Beteiligung.

Das WDNCh ist so etwas Ähnliches wie der Wiener Prater samt Messegelände. Nur eben, entsprechend den Moskauer Dimensionen, gewaltig: Es ist der größte Ausstellungs- und Erholungspark der Welt. Angelegt wurde das Gelände 1939 als "All-Unions-Landwirtschaftsausstellung" mit einer Reihe von aufwendig gestalteten Länderpavillons rund um den "Brunnen der Völkerfreundschaft". Im Laufe der kommunistischen Ära entstanden viele weitere Gebäude, darunter das markante Kosmonautenmuseum.

Nach dem Ende der UdSSR verkam das WDNCh zu einem Marktplatz und Vergnügungsviertel, die alten Pavillons verloren jeden Glanz. Doch im Vorjahr erinnerte sich die Stadtverwaltung der glorreichen Vergangenheit. Gegenwärtig wird der Pavillon Nummer 1 restauriert, zu dem ein mit Lampen in Ähren-Form flankierter und von einer Lenin-Statue dominierter Boulevard führt. Weil man auf kulturelle Nutzungen Wert legt, stellte man das im Zuckerbäckerstil errichtete, noch recht desolate Gebäude den Organisatoren der Moskau Biennale für zeitgenössische Kunst zur Verfügung. Einen imposanteren Veranstaltungsort könnte man kaum finden.

Die Ausstellungsfläche des Mehr-Schein-als Sein-Pavillons ist zwar bemessen. Der Ansatz der drei Kuratoren – Bart De Baere (MUHKA in Antwerpen), Defne Ayas (Witte de With in Rotterdam) und Nicolaus Schafhausen (Kunsthalle Wien) – war es aber auch nicht, eine überbordende Weltkunstschau zusammenzustellen: Sie inszenierten die Biennale als zehntägiges, prozessorientiertes Festival. Bis 1. Oktober gibt es jede Menge Vorträge von Soziologen, Ökonomen, Literaturwissenschaftlern und Kunsttheoretikern.

Schließlich geht es um die Frage des Zusammenlebens ("How to gather?") in einer "Stadt im Herzen des eurasischen Kontinents".

Zudem finden andauernd Performances und Interaktionen statt: Fabrice Hyber porträtiert die Besucher in Öl, genau genommen in Rohöl; Leon Kahane nimmt Unterricht in Ballett; Qiu Zhijie malt mit schwarzer Farbe ein riesiges Bild der Welt; Alevtina Kakhidze gestaltet ein Live-TV-Programm mit "Future News"; und jeden Tag führt Schafhausen mit Mian Mian eine "Lecture" ab – über Gender-Fragen und freie Meinungsäußerung.

Freie Rede

"Wir Kuratoren können zwar kein Russisch", sagt Schafhausen zum KURIER. "Aber wir konnten beim besten Willen keine Restriktionen feststellen. Dass Zensur möglich sein könnte, haben wir jedoch von Anfang an mitbedacht. Daher legen wir auch Wert auf die freie Rede im Rahmen der Biennale."

Selbstverständlich gibt es auch vorgefertigte Kunst zu bestaunen. Eher banal, aber sinnfällig ist ein Foto von Almagul Menlibayeva mit einem Stein im Niemandsland, der "The Center of Eurasian continent" markiert. Luc Tuymans hingegen versteht, mit einem bis zur Decke aufgeblasenen Porträt eines orthodoxen Priesters zu beeindrucken: Der Betrachter wird vor diesem Gottesmann zum Wurm. Hinzu kommt, dass sich der belgische Künstler radikal dem Kunstmarkt entzieht. Denn die "Anbetung" ist derart groß, dass sie nach den zehn Tagen der Biennale vernichtet werden muss, weil sie durch keine Türe passt.

Auch wenn die Biennale selbst vom Publikum nicht unbedingt gestürmt werden dürfte: Das Begleitprogramm ist unglaublich vielfältig. Das Jüdische Museum zum Beispiel präsentiert Anish Kapoor mit vier typischen Anish-Kapoor-Arbeiten; die Eröffnung war ein gesellschaftliches Ereignis. Die Garage zeigt Installationen und Skulpturen von Louise Bourgeois; das Ausstellungshaus müsste nun eigentlich Restauration heißen. Denn man übersiedelte von einer ehemaligen Busgarage in ein ehemaliges Massenabfertigungsrestaurant im Gorki-Park, das von Rem Koolhaas mit einer transparenten Hülle verkleidet wurde.

Medienrebell

Und das Moskauer Museum moderner Kunst widmet dem angeblich in Odessa geborenen Polyartisten Peter Weibel eine in Schwarz-Weiß gehaltene Retrospektive auf allen vier Ebenen. Kurator Joseph Backstein, der Kommissär und Gründer der Biennale, beschränkte sich vor allem auf die 60er- und 70er-Jahre des österreichischen "Medienrebells": Zu sehen sind sprach- und systemkritische Fotos, Videos und Installationen. Lediglich im obersten Stock wird es bunt und laut, denn da lässt Weibel Blut fließen, da spielt auch sein Hotel Morphila Orchestra auf. Als besonderen Witz ließ Backstein die Erläuterungen zu den "technischen" Arbeiten handschriftlich aufmalen. Die Schau wurde klarerweise vom Österreichischen Kulturforum unterstützt.

Erinnerungen an das Russland der UdSSR
Moskau Biennale

Das Kulturforum organisierte auch eine eigene, ziemlich beeindruckende Ausstellung: Für "Nadezhda – Prinzip Hoffnung" lud Direktor Simon Mraz – zusammen mit Schafhausen als Ko-Kurator – Künstler und vor allem Fotografen ein, russische Industriestädte zu porträtieren, darunter Ekaterinburg, Ivanovo und Magnitogorsk, die Stadt um den längst abgetragenen Magnetberg. In dünn besiedelten Gebieten aus dem Boden gestampft oder als existierende Städte nach der Revolution neu erfunden, symbolisierten sie, so Mraz, "die Vorstellung von einem zukünftigen besseren Leben". Die Realität, vor allem die heutige, sieht etwas anders aus. Mehrfach geht es zum Beispiel um die Automobilfabrik GAZ in Nishni Nowgorod: Nikita Shokov betont die übertriebene Fröhlichkeit der Fabriksarbeiter und Fabian Bechtle thematisiert den absurden Handgriff auf den offenen Fahrzeugen für die Polit-Parade.

Elena Tschernyschowa, 1981 in Moskau geboren, ist gleich mit zwei Zyklen – über das elende Leben in Norilsk sowie eine Gegenüberstellung von Wyksa im Sommer und im Winter – vertreten. Sie ist tatsächlich herausragend. Gegen die Wucht ihrer Fotos haben es die meisten rein künstlerischen Beiträge schwer. Schwer haben sie es auch gegen das Umfeld: Mraz zeigt seine kraftvolle, mit Augenzwinkern gestaltete Ausstellung in einer ziemlich devastierten Fertigungshalle der "Trekhgornaya Manufaktura", einem ehemaligen Textil-Kombinat. Nächstes Jahr wird die Ausstellung auf neutralem Grund zu sehen sein: in der Kunsthalle Wien.

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