Eine Kokainspur durch das Jahr 2015

Nachdenklich in seinem Wiener Lieblingslokal, dem Anzengruber: Thomas Glavinic, Schriftsteller und Brutalo-Romantiker
Thomas Glavinic bleibt sich von den Motiven her treu – und verarbeitet auf 748 Seiten das Jahr 2015.

Am 29. April wird "Mugshots" von Thomas Glavinic uraufgeführt – nicht im Rabenhof, wie anzunehmen wäre, sondern vom Volkstheater für die Außenbezirke. Laut Ankündigung geht es um den Werber Christoph, der sich nach einer alkoholgeschwängerten Nacht die Frage stellen muss, wer die Frau in seiner Wohnung ist.

Im Prinzip genau gleich beginnt auch der neue Roman von Glavinic: In "Der Jonas-Komplex" stellt der Ich-Erzähler am Neujahrsmorgen fest, dass neben ihm eine Frau liegt. "Ich kenne sie. Sie heißt Ina. Ich frage mich bloß, was sie da macht." Ina ist nur eine von vielen, mit denen er Sex hat oder im Laufe des Jahres 2015 haben wird.

Und der Ich-Erzähler ist ein (er-)lebenshungriges Alter Ego: ein Schriftsteller in Wien, der gern ins Anzengruber geht, ein massives Drogenproblem hat und den Anwalt Werner Tomanek zu seinen Freunden zählt. Wie der echte Glavinic besucht er die Mörderin Estibaliz Carranza in der Justizanstalt Schwarzau, lebt er drei Monate in Carlisle als Writer in Residence und trägt er Dachstein-Schuhe (das nennt man erfolgreiches Product Placement). Diese Figur kommt dem Glavinic-Leser ziemlich bekannt vor – aus "Das bin doch ich" (2007).

Die aberwitzigen Erlebnisse dieses Schriftstellers, der die wichtigsten Ereignisse – vom Tod Kurt Kuchs am 3. Jänner bis zum Tod von Lemmy Kilmister am 28. Dezember, vom Überfall auf Charlie Hebdo bis zu den Attentaten in Paris – nebenbei kommentiert, sind aber nur ein Handlungsstrang von dreien: Parallel erzählt ein dreizehnjähriger Pubertierender sein Jahr 1985 in der Weststeiermark. Er ist ein begeisterter Schachspieler, wie Glavinic einer war. Der Grazer, 1972 geboren, verarbeitete sein Wissen über das Schachspiel übrigens in seinem Debütroman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" (1998).

Selbstfindung

Und der dritte Strang ist eine Fortsetzung des grandiosen Romans "Das größere Wunder" (2013): Der Privatier Jonas verbringt das geschilderte Jahr X mit vielen unnützen Aktivitäten (er lässt sich irgendwo auf der Welt verstecken, um sich selbst zu finden) – und bricht mit seiner geliebten Marie zu einer Expedition zum Südpol auf.

Ineinander verflochten sind die Stränge allein schon durch die Erkenntnis: "Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen."

Es gibt aber nicht nur motivische Verknüpfungen. Hier erweist sich Glavinic wieder höchst raffiniert. Nebenbei erzählt er z. B. eine berührende Geschichte über eine Holocaust-Überlebende, die, dement geworden, mit der späten Wiedergutmachung nichts mehr anfangen kann.

Leider ist der 748-Seiten-Roman mit dem doppeldeutigen Titel (den Jonas-Komplex gibt es wirklich) in den Jonas-Passagen etwas redundant. Denn um die Figur zu erklären, muss Glavinic "Das größere Wunder" mit der Himalaja-Besteigung nacherzählen. Und weil Wiederholungen eher fad sind, wendet er für die Südpol-Expedition leider kaum Energie auf.

Die Eskapaden des Autors hingegen sind nicht nur höchst amüsant, sie haben auch viel "Substanz". Man darf sich über konkrete Poesie amüsieren, entdeckt eine Reverenz vor "Tristram Shandy" – und hofft, wie der glatzköpfige Brutalo-Romantiker, auf die Kraft der Liebe.

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