Ein Blick durch das Mikroskop der Seele

Jeder kennt Fraktale, der Begriff ist hingegen wenig geläufig: Geprägt in den 1970ern vom Mathematiker Benoît Mandelbrot, beschreibt er geometrische Formen und Objekte, die aus kleinen, selbstähnlichen Teilchen bestehen. Vergrößert man also diese Objekte, sieht der Ausschnitt seinem Original sehr ähnlich oder ist sogar ident. Wie bei einem Baum, dessen Äste aussehen wie Mini-Bäume, oder einem Farn, dessen Blätter aussehen wie Mini-Farne.
Was dieses mathematische Konzept mit Psychologie zu tun hat, erklärt der deutsche Arzt und Psychotherapeut Christian Schubert in seinem Buch „Geometrie der Seele. Wie unbewusste Muster das Drehbuch unseres Lebens bestimmen“. Schubert leitet das Labor für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Universität Innsbruck und beschäftigt sich seit 25 Jahren mit den Wechselwirkungen von Psyche, Gehirn und Immunsystem. So wie Forscher durch ein Mikroskop Fraktale entdecken, zoomt also er in die menschliche Seele und erkennt dort selbstähnliche Muster.
Das Große im Kleinen
Was das bringt, schildert Schubert – nach einem theoretischen Streifzug durch die Mathematik und Biologie – recht anschaulich und gut verständlich an Fallbeispielen aus der Praxis. Unter anderem erzählt er von einer Klientin, die wegen eines verloren gegangenen Koffers auf dem Flughafen einen Nervenzusammenbruch erlitt. In der Therapie stellte sich heraus, dass die harmlose Episode Erinnerungen an den frühen Verlust ihres Vaters weckte. Das kleine Drama verweist also auf ein großes, lebensbestimmendes Kindheitsdrama, so wie ein kleiner Ast auf den Baum verweist.
„Mit einem Grundverständnis des Menschen als biopsychosozialem und fraktal organisiertem Wesen“, schreibt Schubert, „würden wir nicht nur als Individuen anders denken und empfinden, wir würden als Gesellschaft anders leben, lieben, kommunizieren, lernen, ausbilden, arbeiten, forschen, kurieren, pflegen als derzeit üblich.“ So sei auch die Volkskrankheit Burn-out nichts anderes als ein Fraktal der Leistungsgesellschaft.
Mehr Empathie
Im Meer aus Psycho-Ratgebern hebt sich Schuberts „Geometrie der Seele“ ab und bietet vor allem jenen einen neuen Ansatz, die von inneren Kindern und Sinnsuche-Märchen à la „Café am Rande der Welt“ genug haben. Manches kommt konstruiert daher, etwa wenn der Autor die sich alle sieben Jahre wiederholenden Unfälle einer Klientin auf die Fraktaltheorie zurückführt. Nicht bahnbrechend neu liest sich zudem die Erkenntnis, dass strukturelle emotionale Krisen Autoimmunerkrankungen befeuern.
Die Lektüre animiert jedenfalls, die eigene Seele durch das Mikroskop zu betrachten, Muster – Fraktale – zu erkennen und zu hinterfragen. Im besten Fall trägt sie dazu bei, anderen mit mehr Empathie zu begegnen.

Christian Schubert: „Geometrie der Seele“, GU, 208 Seiten, 22,90 Euro
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