Earle: Ein amerikanisches Geistermärchen
Im Jänner 1953 starb der große Countrysänger Hank Williams auf dem Rücksitz eines Autos, das ihn zu einem Konzert bringen sollte. In "I'll Never Get Out Of This World Alive", dem Debütroman des Sängers und Songschreibers Steve Earle, wandelt Williams' Geist zehn Jahre später noch immer auf Erden umher: Als hagere Gestalt mit Knochenfingern begleitet er den Arzt, der ihm im Auto einst die folgenschwere Dosis Morphin gespritzt hatte.
Steve Earle, seit den 1980ern als wilder Hund des Country-Rock und als linker Polit-Aktivist bekannt, hat als Buchautor tief in die Kiste jener Mythen und Milieus gegriffen, die auch seine Musik bestimmen. Neben Hank, dem Geist mit Cowboyhut, tritt bald eine spiritistisch begabte Mexikanerin auf, die an den Handgelenken eine nie verheilende Wunde trägt, selbst aber scheinbar wundersame Heilkräfte besitzt. "Doc", wie alle den Arzt nennen, hat indes seine Lizenz verloren und führt in einer heruntergekommenen Pension in San Antonio/Texas illegal Abtreibungen durch, um seine Heroinsucht zu finanzieren.
Junkie-Erfahrungen
Earle, der in San Antonio aufwuchs und selbst lange Zeit an der Nadel hing, überzeugt als Schriftsteller vor allem mit der Liebe zu seinen Protagonisten: Mit fast missionarischer Hingabe schildert er die Ausgestoßenen der Gesellschaft, gibt ihnen Würde, nimmt ihren Geister- und Aberglauben ebenso ernst wie ihren Zynismus. Dass die wundersame Geisterwelt letztlich aus der drogengeschwängerten Tristesse erwächst, muss er nicht extra betonen. In der Welt, die er eindringlich schildert, muss der Glaube an Wunder einfach helfen.
KURIER-Wertung: **** von *****
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