Wie sieht er diese Arbeit heute, drei Jahre nach Ausbruch der Pandemie und in der vom Krieg überschatteten Gegenwart? Gab es Überlegungen, etwas zu adaptieren, zu konkretisieren? „Sie sehen doch selbst, es ist alles schon da! Was soll man da noch adaptieren? Romeos Arbeit ist so zeitlos, so universell. Das ist das Fantastische an Künstlern wie Romeo. Er hat etwas zu sagen und das ist so stark, das gilt über alle Zeiten“, lobt Pichon die Arbeit seines Regisseurs. „Romeo versucht zwei Botschaften zu vermitteln“, setzt er fort“, „es geht um Erscheinen und Verschwinden, um Geburt und Tod, um den ewigen Kreislauf von Leben und Sterben. Es ist eine Warnung, dass alles, Pflanzen, Tiere alles verschwindet, aber die Menschen kümmern sich nicht darum, und am Ende werden wir die letzten auf der Liste sein, die verschwinden “, sagt Pichon. Für ihn sei das Konzept dieser Aufführung mit den Entfachen eines Feuers zu vergleichen. „Die Flamme lodert auf und wird wieder zur Asche“.
Eigenes Ensemble
In Frankreich zählt Pichon längst zu den ersten Adressaten, nicht nur, wenn es um Komponisten wie Bach, Rameau und Mozart geht. 2006 gründete er sein Ensemble Pygmalion, eine erstklassige Formation aus Musikerinnen und Musikern, die auf historischen Instrumente spielen, und aus einem brillanten Chor. Mit namhaften Regisseuren wie Katie Mitchell und Simon McBurney setzen sie Werke von für die Bühne um. Auf Castellucci traf Pichon durch seine Ehefrau, die Sopranistin Sabine Devieilhe. Eine „Zauberflöte“ hatte man schon für Brüssel in Planung, die scheiterte an Pichons Terminen. 2019 schlug Pierre Audi, Mozarts Requiem, KV 626 für sein Festival in Aix-en-Provence zu inszenieren.
„Die zentrale Frage unserer Arbeit drehte sich zunächst um die Partitur. Wie bringt man diese zum Atmen?“, blickt Pichon auf die Arbeit zurück. Für ihn war sofort klar, Mozarts Requiem ist, auch in der von Franz-Xaver Süßmayer vervollständigten Fassung, mit seinen 50 Minuten für eine Aufführung zu kurz. „Wenn man sich auf ein solches Meisterwerk einlassen will, muss man auch eine Atmosphäre dafür schaffen“. Pichon, Spezialist für alte Musik, hatte sofort die passenden Stücke zur Hand. Wenig bekannte von Mozart dienen gleichsam als Spiegel für die Teile des Requiems wie die „Meistermusik“, KV 477B. Das ist eine Fassung der Mozart’schen „Trauermusik“, KV 477 mit Chorgesang. „Das wurde in der Freimaurer-Loge von Mozart gesungen“, erklärt Pichon, der sie für die Produktion rekonstruiert hat. Als Prolog und als Epilog wählte er zwei gregorianische Choräle.
Marathon für den Chor
Den größten Herausforderungen müsse sich der Chor stellen, setzt er seine Ausführungen fort. „Sie werden als Sänger, Schauspieler und Tänzer eingesetzt. Sie müssen einen echten Marathon bestehen. Nicht genug damit, ist ihr Tanz oft in einem anderen Rhythmus als der Gesang und den Dirigenten können sie auch nicht immer sehen. All das ist nur möglich, weil sich alle im Ensemble Pygmalion so gut kennen. Außerdem sie sind es gewohnt, hart zu arbeiten und sind sehr großzügig, wenn sie wissen, dass Großartiges zu erreichen ist“, lobt er sein Ensemble.
Frage an den Maestro: Kann oder soll man Mozart heute, nach Nikolaus Harnoncourt, nur noch auf alten Instrumenten spielen? Als er den Namen Harnoncourt hört, erhellt sich sein Blick. „Wir haben das Glück, dass wir mit verschiedenen Generationen von Musikern aufgewachsen sind, aber Harnoncourt bleibt eine wichtige Inspiration“, so Pichon. Persönlich hat er ihn nie getroffen, aber er beruft sich auf ihn, etwa wenn es um die Sprache der Musik geht. Historische Instrumente seien unverzichtbar, wenn es darum geht, die Seele dieser Musik zu erwecken, denn dafür müsse man ihre Sprache sprechen. „Diese Musik auf modernen Instrumenten zu spielen, ist, wie wenn man von einem Komponisten verlangt, dass er seine Musik übersetzt“, erklärt Pichon. Auf historischen Instrumenten zu spielen sei jedoch nicht alles, fügt er hinzu, denn es gäbe bekanntlich auch sehr schlechte Interpretationen damit und sehr gute mit modernen Instrumenten.
Klang, Raum und Gemeinsamkeit
Kann Musik in Zeiten des Kriegs etwas verändern? Sein Leben habe die Musik schön früh verändert, erzählt Pichon „Als ich ganz klein war, musizierte ich allein, aber an jenem Tag, an dem ich im Chor zu singen begonnen habe, entdeckte ich den Zauber der Polyphonie, die chemische Wirkung zwischen Klang, Raum und Gemeinsamkeit“, blickt er auf seine Kindheit zurück.
„Jetzt gehen die Emotionen sehr hoch“, kommt er auf die aktuellen Geschehnisse zu sprechen, „der Krieg geht und sehr nahe, denn das Volk, das er trifft, ist uns sehr nahe“. Wenn man jetzt keine russischen Künstler mehr einlade, würde man vielen jungen ihre Chancen nehmen. „Man weiß, doch, dass es auch viele Künstler gibt, die sich gegen das Regime in Russland und international stellen. Die müssen wir einladen, damit sie ihren Widerstand zeigen können“. Aber Künstler, die dem Regime nahestehen und ihre Nähe auch demonstrieren, könne man nicht einladen. Dennoch sollte man nicht vergessen, wie wichtig die russische Kultur ist für die abendländische ist. Ein Symposium über Dostojewski abzusagen, wie es ein italienischer Literaturprofessor in Mailand wollte, das halte er für falsch. „Solche Reaktionen beruhen nur nur auf Emotionen und das ist nie gut. Am Ende würde man dann genauso wie jene handeln, gegen die wir auftreten“, so Pichon.
Noch etwas: „Ich glaube, dass die Musik die Menschen verändern kann, aber niemals den Lauf der Geschichte“ sagt Pichon und fügt hinzu: „Die Musik ist unsere einzige Waffe.“ Und wie zur Beruhigung sagt er: „Ich bleibe Optimist“.
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