Es geht in der „Strudlhofstiege“ um Menschen, die um eine Gegenwart ringen. Um Überlebende, die nicht wissen, dass ihr Überleben – zwangsläufig – in den nächsten Abgrund führt. Um eine Vergangenheit, die mehr ist als nur Vergangenheit, sagt Hagg. Und schlussendlich um die Frage: Wohin geht eine Welt, wenn sie untergeht?
„Ich hatte mit Doderer keine allzu große Umarmung, bevor ich mit der ,Strudlhofstiege’ in Berührung kam“, sagt Kica, der u. a. bereits Fjodor Dostojewskis „Die Dämonen“ und Thomas Manns „Der Zauberberg“ inszeniert hat. „Ich finde, Doderer ist ein sehr spannender Autor in seiner krankhaften Akribie. In seiner bis in den Irrsinn geführten Genauigkeit der Beschreibung.“
Doderer hatte da seine eigene Logik: „Ein Werk der Erzählkunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann.“
KURIER: Der Gesellschafts- und Großstadtroman über Wien besteht aus vielen Erzählsträngen, raffiniert verflochten, durchbrochen von Zeitsprüngen und kaum zu überblicken. Muss man da im Theater nicht scheitern?
Janusz Kica: Wenn man das Scheitern in den Arbeitsprozess einbezieht, kann man nur positiv überrascht werden. Aber wir haben uns überlegt: Wie könnte man den Roman aus heutiger Sicht kritisch hinterfragen? Das Stück lebt sehr stark von der Sprache und in der Sprache.
Wie wird aus so einem Werk Theater?
Es braucht einen Rhythmus. Nicht alle Figuren sind unbedingt ausformuliert wie sonst meist beim Drama. Es geht um eine bestimmte Sichtweise auf den Stoff. Eine der für mich gelungensten Dramatisierungen ist Dostojewskis „Schuld und Sühne“ von Andrzej Wajda: Er steigt irgendwo auf Seite 280 ein. Ihn interessiert nur die Beziehung zwischen Raskolnikow und Ermittlungsrichter Porfirij im Stück für sieben Darsteller. Er beschäftigt sich nur mit dem Spiel der beiden, aber auch mit Aspekten wie Religion, die für Dostojewski nicht unwichtig war. Das war ein radikaler Zugriff.
Wie bei der „Strudlhofstiege“?
Da haben wir mit Major Melzer eine Figur, die durchgehend anwesend ist im Roman. Bei ihm geht’s ja um die – in seinem Fall gelungene – „Menschwerdung“. Auf der anderen Seite erlebt René von Stangeler eine weniger gelungene Menschwerdung. Darauf ist alles aufgebaut.
Man hat den Eindruck, die Handlung interessiert Doderer nicht besonders.
Ja. Nicht der Plot, sondern das Detail ist wichtig. Der Schriftsteller Martin Mosebach sagt treffend: Der Roman ist wie ein Fest, bei dem sehr viel passiert und überhaupt nichts passiert. Das ist eine sehr gute Beobachtung. Wenn man gebannt in einen Sog der Geschichte kommt, dann aber gleichzeitig das Gefühl hat, dass alles nur in eine Unverbindlichkeit mündet, dann ist das schon ein Moment, wo man nachzudenken beginnen könnte.
Sie erzählen das Stück aus der Perspektive von 1945 – nicht von 1925.Ja. Im Roman heißt es: Melzer war 1942 an der Front in Russland. Da geht es zeitlich über 1924 hinaus. Das ist unsere Perspektive. Wir fragen, was gerade auch auf Spiegel Online stand: Ist Krieg in Europa wieder denkbar? Wie konnten die Intellektuellen nach dem Zerfall der Donaumonarchie im Vakuum das Feld anderen überlassen? Was führt dazu, dass man nach solchen Erfahrungen für die Wiederherstellung der Größe stimmt und bereit ist, dafür sein Leben zu opfern? Aus der Perspektive von 1945 wird noch einmal diese Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg problematisiert und beleuchtet, wie es dazu gekommen ist, dass Hitler plötzlich auf dem Heldenplatz stand.
Also das Thema „Erinnerung“?
Im Stück ist Erinnerung der Motor des Geschehens. Melzer hat jemanden, der ihn zwingt, sich zu erinnern: sein Vorbild und seine Bezugsperson Major Laska, der aus dem Totenreich kommt. Wie Vergil Dante begleitet, führt Laska Melzer durch die Zeiten. Wie sein Gewissen, wenn er durch die Begegnungen mit den Menschen geht.
Nonplusultra österreichischer Lebenshaltung nannte Hilde Spiel Doderers Werk: „Hier ist, wie in einem gewaltigen Spiegel, die letzte mürbe Reife einer jahrhundertealten Kultur eingefangen. Aber der Spiegel maskiert nur eine Tür, die ins Schloss gefallen ist.“
Bei uns sieht man die Menschen in ihrer Arroganz vor dem Krieg mit Serbien. Wo man in der Vergangenheit lebt und sich selbstverliebt in den Salons bewegt. Dann gibt es das Trauma des Krieges und die Menschen danach. Schließlich wundern wir uns hoffentlich: Wieso vergisst man das so schnell? Wieso analysiert man nicht? Wieso gibt es so viele Lügen? Und plötzlich sind auf der Bühne Menschen wie Figuren von Horvath, die nicht reflektieren, nur weiterleben. Ohne Bewusstsein für das, was kommen kann und was kommen wird. Und was gewesen ist.
Ein besonderer Zugang?
Niki Hagg hat etwas sehr Spannendes gewagt: eine Perspektivenverschiebung. Ist Erinnerung nur Verklärung? Oder kann man etwas lernen aus der Erinnerung? Wenn ich mich umschaue, habe ich das Gefühl, dass man nicht viel lernt. Wir lernen angeblich aus der Geschichte. Und dann doch nicht.
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