Die Rückkehr ins Innere

Gerhard Roth im Prunksaal der Nationalbibliothek.
Der Schriftsteller besucht die Häuser in Wien, die sich ihm vor 20 Jahren anvertrauten.

Gerhard Roth ist zurück. Das hat mehrere Bedeutungen. Der Grazer ist zurück in Wien. Er besucht jene Gebäude, die mit ihm seinerzeit gesprochen haben. Etwa 20 Jahre ist es her, dass sich die Gebäude ihm anvertrauten und Roth zu ihrem Archäologen wurde: das Naturhistorische Museum, die Rossauer Kaserne, das Obdachlosenasyl, das Heeresgeschichtliche Museum ... Nie ging es ihm bei seinen Reisen ins Innere ums Aufdecken – „ich bin Dichter, kein Richter.“

Wenn aber ein Organismus von einer ansteckenden Krankheit befallen ist, dann muss man etwas machen.Davon berichten. Dadurch ist einiges gesünder geworden im Land; und wenn Gerhard Roth heute – im Alter von 71 Jahren – mit einem Filmteam durch den Prunksaal der Nationalbibliothek geht, sagt er: „Es herrscht mehr Klarheit ...“

Die Rückkehr ins Innere
honorarfrei wegen tv-film

Mehr Wahrheit in den Unterwelten der Stadt und der Menschen. Zum Beispiel gleich hier unten im Keller, wo er im Herbst 1989 von einem Beamten der Nationalbibliothek diskret auf den „Sarg“ aufmerksam gemacht wurde. Noch heute wird in der jetzigen Generaldirektion angefragt, ob der „Sarg“ noch da sei. Nein, die geraubten Bücher wurden mit einer Verspätung von sechs Jahrzehnte zurückgegeben; sofern das noch möglich war.

Damals aber gab’s noch diesen Raum mit dem unheimlichen Namen, in dem ganze Bibliotheken jüdischer Flüchtlinge und Deportierer lagen. Auch die Bibliothek Arthur Schnitzlers befand sich darunter.

Als Gerhard Roth darüber einen Essay schrieb, meldeten sich Schnitzlers Erben in der Nationalbibliothek – und dort hieß es zunächst: Nein, das stimme nicht.

Oder die Rossauer Kaserne: Als sich der Schriftsteller im Polizeigefangenenhaus umschauen und mit Schubhäftlingen reden wollte, habe man ihn zuerst – so erzählt er – mit der Forderung vertreiben wollen: 35.000 Schilling seien pro Foto zu zahlen. Roth: „Aber um das Geld krieg ich ja schon ein Foto vom russischen Gulag!“

Und als er dann doch gratis Einlass bekam, sei kein Schubhäftling zu sehen gewesen. Alle verschwunden. Versteckt im Hof in den Polizeiautos ... Oder das Heeresgeschichtliche Museum damals – ein heroischer Ort, ein verlogener. 3000 Fahnen, 4000 Hand- und Faustfeuerwaffen, 2600 Blankwaffen, 4000 Uniformen, 2000 Orden und Medaillen – und eisiges Schweigen, dass so ein Krieg Menschen umbringt, dass es Opfer gibt. „Was ich nicht verstehe“, sagt Gerhard Roth, wenn man mit ihm über das Vermächtnis der Nazi-Zeit redet: „Wenn ich ein Haus habe und einen Garten, und hinter dem Haus ist eine Stelle mit hohem Gras, da ist eine Kreuzotter drinnen – warum sagen die Eltern ihren Kindern nicht: ,Geht’s da nicht rein!?‘ Warum haben sie geschwiegen?“

Bilder als Notizzettel

Gerhard Roth ist zurück. Er ist im Leben zurück. Sein Vater hat schon gewusst, warum er Medizin studieren sollte. (Hat er 1967 nach zwölf Semestern abgebrochen) – wegen seiner eigenen Befindlichkeiten. Ausgerutscht ist Gerhard Roth in seinen Schlapfen, als er den bunten Morgennebel vor seinem steirischen Haus fotografieren wollte. Offener Schienbeinbruch. „Ja, bist du denn jetzt völlig verrückt?“ , hat Ehefrau Senta gerufen, als er schmerzverzerrt auf der Erde lag – denn trotzdem fotografierte er den Nebel.

Er fotografiert halt gern. Oft sind die Bilder für ihn wie Notizzettel. Oft werden sie in Galerien ausgestellt. Sie zeigen Wasserflecken an den Mauern. Krähenfüße im Schnee. Eisblumen.

Seit Neuestem fasziniert ihn eine Wanne, die irgendwo in der Steiermark im Gras steht. Da wurden Fische hineingelegt, als Züchter den Teich geleert hatten.

Die Fische sind weg. Die waren ja auch nicht so interessant. Aber die Wasserränder. Die Tierspuren. Die Raupe, die hineinkriecht ... „Im Kleinen das Besondere entdecken, im Hässlichen das Schöne finden.“

... und kaum hatte Gerhard Roth nach dem Beinbruch wieder halbwegs zu gehen gelernt, kam er nicht weit. Er bekam keine Luft. „Asthma“ sprach ein Facharzt. Wochenlang hieß es so. Aber es war eine doppelseitige Lungenembolie. Notaufnahme. Intensivstation. Lebensgefahr. Drei Wochen Spitalsbett. Sein Bruder Paul war an einer Embolie gestorben.

Nächstes Jahr erscheint im Verlag S. Fischer der Roman „Das Rätsel des Philipp Artner“. Gerhard Roth überarbeitet das Manuskript zurzeit zum fünften Mal. Es geht um die letzten fünf Sekunden. Die allerletzten. Gerhard Roth muss lachen: Er hat darüber 600 Seiten geschrieben.

Man wird Krähen sehen. Zwar landen die Schwärme erst im November in Wien. Aber sie gehören in den Dreiteiler, die von der Rilk Film – bekannt für internationale Dokumentationen: „Universum“, „Newton“ – für den Sender Servus TV produziert wird.

Gerhard Roth bewundert die Krähen. Vom Fenster seiner Wiener Wohnung am Heumarkt hat er beobachtet: Eine Krähe blieb krank im Hof zurück, als der Schwarm im März aufbrach. Tage später flog eine Nachhut laut krächzend über die Dächer und nahm Kontakt mit der kranken Krähe auf. Tagelang wiederholte sich der Vorgang, bis der Vogel mit zwei „Wächtern“ davonfliegen konnte.

Kerzenesser

Bei den Dreharbeiten vergangene Woche im alten, aufgelassenen jüdischen Teil des Zentralfriedhofes, Tor 1 , hörte man schon vereinzelt Krähen, man sah sie aber nicht.

Roth wusste, warum: Sie halten sich lieber im angrenzenden katholischen Teil auf.

Weil dort mehr Menschen sind, die sie füttern. Und: Die gescheiten Vögel wissen, dass dort Kerzen auf den Gräbern stehen. Die stibitzen sie, wegen des Paraffins.

„Die Stadt“ – unter diesem Titel wird Roths Wiedersehen mit den lichtabgewandten Seiten Wiens im TV laufen: an drei Abenden im Jänner 2014, jeweils 50 Minuten lang. Regie führt die zweifache ROMY-Preisträgerin Elisabeth Scharang („Franz Fuchs – Ein Patriot“).

Sie sagt: „Ich habe über die Streifzüge mit Gerhard Roth in der Stadt, in der sich seit 40 Jahren lebe, einen doppelten Boden entdeckt: Das ist berührend und beängstigend. Und macht den Film für mich zu einem persönlichen Abenteuer.““

Produzent Thomas Rilk bewundert die Arbeit des Schriftstellers seit vielen Jahren – „vor allem die Bücher über seine Reisen ins Innere der Stadt, die mir die Geschichte des ganzen Landes eröffnet haben. Eine Geschichte des Schweigens, der Verdrängung, der an den Rand Gedrängten; aber auch die Geschichte der Schönheiten und Wunderlichkeiten, die es noch zu entdecken gibt.“

Lesetipps

Bis zum TV-Termin ist noch Zeit für die Bücher „Eine Reise in das Innere von Wien“ und „Die Stadt“, alle bei S.Fischer erschienen.

Und für den Fotoband „Atlas der Stille“ (Brandstätter Verlag) – 700 Bildnotizen aus dem steirischen Obergreith. Schatten, Gräser, Porträts. Dokumente, die selbst beim Blättern zu erzählen beginnen.

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