Perceval nimmt sich also eine ganz normale flämische Familie vor, die bis auf eine Ausnahme mit den Faschisten kollaboriert. Peter van Kraaij hat dazu – auch unter Verwendung historischer Quellen – einen beklemmenden, vielsprachigen Text verfasst, den Perceval in zwei pausenlosen Stunden beeindruckend auf die Bühne (Annette Kurz) bringt.
Ein „flämischer Mittagstisch“, ein paar weiße Fahnen und Live-Musik (Sam Gysel) – mehr benötigen Perceval und sein internationales Ensemble (es gibt Übertitel) nicht, um eine bitterböse Familienaufstellung zu machen. Von der Begeisterung für Hitler bis zu Stalingrad und der bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes samt ihrer Folgen für die Familie spannt Perceval seinen historischen Bogen. Intensiv und in düsteren Bildern wird Geschichte erfahrbar. Skorzeny und Degrelle finden Unterschlupf im faschistischen Spanien von General Franco. Die Familie aber steht vor einem Trümmerhaufen.
Philip Leonhard Kelz, Tobias Artner, Bert Luppes, Oskar Van Rompay, Peter Seynaeve, Maria Shulga, Chris Thys, Valéry Warnotte und Lien Wildemersch spielen allesamt exzellent. Toll. Peter Jarolin
Ein Tanzklassiker neu gedacht: Pina Bauschs "Das Frühlingsopfer" im Festspielhaus St. Pölten
Sie ist bis heute eine Ikone, ja eine Kultfigur des zeitgenössischen Tanzes und hat Generationen von Choreografen und Tänzern geprägt. Sie, das ist die 2009 im Alter von 69 Jahren verstorbene Pina Bausch, die mit ihrem Tanztheater Wuppertal für Meilensteine gesorgt hat, deren Arbeiten immer noch zeitlos gültig sind.
Dies gilt auch für Bauschs „Frühlingsopfer“ zur Musik von Igor Strawinsky, das 1975 uraufgeführt und dank der Bausch-Foundation neu befragt wurde. Auch im ausverkauften (!) Festspielhaus St. Pölten, und zwar durch Tänzerinnen und Tänzer der École des Sables aus dem Senegal. Das Ergebnis darf als Ereignis gewertet werden.
Ja, sie sind alle noch da, die von Bausch intendierten Schrittfolgen, Ensembles, die Hebefiguren und Sprünge. Aber sie erhalten durch das afrikanische Ensemble – sensationell etwa Khadija Cisse als Opfer – eine ganz andere Archaik. Denn auf dem Torf-Boden (getanzt wird barfuß) regiert der pure Rhythmus, wird eine Spannkraft freigesetzt, der man sich nicht entziehen kann und will.
Man merkt, dass die Tänzerinnen und Tänzer aus Burkina Faso, der Elfenbeinküste und dem Senegal durch ein intensives Casting gegangen sind und Strawinskys Musik (danke für die Verwendung einer Einspielung von Pierre Boulez) förmlich in sich aufgesogen haben. Grandios!
Vor dem „Frühlingsopfer“ gab es noch ein Wiedersehen mit zwei Tanzlegenden. Unter dem Titel „common ground[s]“ zeigten Germaine Acogny, die Gründerin der École des Sables und Malou Airaudo, eine Ikone der ersten Stunde im Tanztheater Wuppertal, ihr neues, sehr ästhetisches Duett.
Die beiden über 70-jährigen Tänzerinnen setzten – ganz in Schwarz gewandet– auf kleinere, fast minimalistische Schritte und Gesten. Sie leisteten eine Art Trauerarbeit, deren Inhalt sich aber nicht ganz erschließen konnte. Das war schön anzusehen und eine gelungene, halbstündige Hommage an vergangene Zeiten. Peter Jarolin
Gigantisch und klangmächtig: Oratorium von Benjamin Britten im Musikverein
Benjamin Britten schuf mit dem „War Requiem“ ein gigantisches Manifest für den Frieden. Sein Opus 66 für Soli, Knabenchor, gemischten Chor, Orchester, Kammerorchester und Orgel schrieb er zur Einweihung der neugebauten Kathedrale in Coventry 1962. Die Ruine des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Bauwerks blieb als Mahnmal wie Brittens Oratorium.
Dessen über die Zeiten währende Gültigkeit demonstrierte die Aufführung der Wiener Symphoniker im Musikverein. Ivor Bolton, der für die in der Babypause befindlichen Joana Mallwitz am Pult einsprang, organisierte die verschiedenen Stränge exzellent. Britten verband die sakralen Passagen der „Missa pro Defunctis“ genial mit seinen Vertonungen des im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichters Wilfried Owen. Diese Lyrik zeigt drastisch die Schrecken des Kriegs.
Gesungen wird sie von einem Tenor und einem Bariton. Daniel Behle und Samuel Hasselhorn sind eine famose Besetzung. Ausdrucksstark, wortdeutlich behaupten sich diese beiden Sänger. Unfassbar, bewegend traten sie am Ende als im Tod vereinte auf. Die Sopranistin Ilia Papandreou komplettierte in den sakralen Passagen mit höchster Intensität. Der Wiener Singverein, der erst bei den Salzburger Festspielen mit diesem Britten brillierte, intonierte ausgezeichnet. Die Wiener Sängerknaben ergänzten bravourös.
Im Film würde man bei Ivor Boltons Aufführung von Cinemascope sprechen. Er brachte das Gigantische dieses Werks klangmächtig zur Geltung, sorgte für Ausgewogenheit und hielt den Spannungsbogen. Die Wiener Symphoniker folgten ihm konzentriert (sehr gut die Blechbläser). Grandios die Violinsoli von Anton Sorokow. Ovationen. Susanne Zobl
Wenn die Seuche ausbricht: Oper von Benjamin Britten im Museumsquartier
Beklemmend, wenn sich die Gegenwart auf der Bühne widerspiegelt.
Szenarien von Touristen, die eine Stadt verlassen, von Desinfektion, von Seuchentoten, die immer mehr werden. Hier ist nicht die Rede von einer Corona-Oper, sondern von Benjamin Brittens „Death in Venice“ in einer Aufführung der Neuen Oper Wien im Museumsquartier (noch am 12. Oktober).
Brittens Vertonung von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“, der darin den Ausbruch der Cholera in der Lagunenstadt beschreibt, gerät in Christoph Zauners kluger Regie auf Christof Cremers dunkler mit ein paar Bootsstegen ausgestatteten Bühne zum packenden Zeitdokument. Am Ende tötet der junge Aschenbach Tadzio. Das steht so nicht bei Mann, wird aber durch Alexander Kaimbachers Darstellung schlüssig. Er lässt jede Phase, wie der soignierte Schriftsteller Gustav von Aschenbach der Schönheit des Jünglings Tadzio (famos der Tänzer Rafael Lesage) verfällt, genau erkennen. Chapeau, wie er diese fordernde Tenor-Partie, die Britten für seinen Lebenspartner Peter Pears schrieb, zwischen Expressivität und Fragilität austariert. Dämonisch, stark sind die Auftritte von Andreas Jankowitsch in verschiedenen Rollen. Exzellent die Commedia-dell’Arte-Szenen.
Auch die kleineren Partien sind exzellent besetzt. Hervorragend der Wiener Kammerchor. Walter Kobéra lässt mit dem sehr guten Tonkünstler-Orchester Niederösterreich einen Hauch von Mahler und eine Brise Wagner durchwehen, arbeitet die Motive deutlich heraus, sorgt für Spannung. Jubel! Bedauerlich, dass die Neue Oper Wien nicht rechtzeitig auf die Vollbelegung reagierte. Diese glänzende Aufführung hätte sich volle Säle verdient. Susanne Zobl
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