Die holde Kunst als Selfie-Tapete
"Keine Angst, es wird alles gut." Jedes Jahr postet die britische Museums-Beraterin Mar Dixon diesen Satz, wenn es auf den von ihr initiierten "Museum Selfie Day" zugeht: Morgen, am 17. Jänner 2018, ist es wieder so weit.
Mit der Angst vor unachtsam geschwungenen Selfie-Sticks, vor im Rückwärtsgang umgestoßenen Skulpturen oder Urheberrechtsverletzungen hat man mangels Alternativen zu leben gelernt. Die Selfie-Praxis ist Norm geworden, und die Kunst hat ihren neuen Platz in der Ökonomie der Bilder erkannt.
Stolz werden heute neben den Zahlen physischer Besucherinnen und Besucher von Ausstellungshäusern die Followerzahlen auf Social-Media postuliert. Die digitale Popularität wird angefacht, wenn ein Kunstort mit Selfie-tauglichen Motiven aufwarten kann: Großausstellungen werden selbstverständlich auf solche Motive hin abgeklopft, die – mit eigenen Hashtags versehen – als Aufmerksamkeitsmagneten fungieren.
Instagram als Maßstab
Künstlerinnen und Künstler, die Instagram-freundliche Werke produzieren, haben in dieser Ökonomie einen Startvorteil. Im Fall der Japanerin Yayoi Kusama, deren gepunktete Objekte und endlos verspiegelte Räume ("Infinity Mirrors") zu den meistgeposteten aktuellen Kunstwerken überhaupt zählen, deckt sich der Trend zwar nicht wirklich mit den Intentionen hinter den teils schon jahrzehntealten Werken, die eher auf Selbstvergessenheit abzielen. Doch selten erschienen die Intentionen der Kunstschaffenden so vernachlässigbar wie heute.
Manche, wie Erwin Wurm mit seinen Riesen-Schirmmützen und absurden Selbstinszenierungen, konnten auch eine natürliche Symbiose mit dem Selfie-Trend nutzen: Die Form und Positionierung von Wurms kopfstehendem Lastwagen vor dem Biennale-Pavillon in Venedig 2017 nahm vermutlich doch ein wenig Bedacht aufs Handy-Publikum. Andere Künstler – Olafur Eliasson, Jeff Koons, Damien Hirst, Anish Kapoor – bauen den Selfie-Faktor mehr oder weniger bewusst in ihre Werke ein.
Aber die Kunst!
Der Einwand, dass es dabei ja gar nicht mehr um die Kunst gehe, hält sich hartnäckig: Konzentrierte Kunstbetrachtung ist jenen, die sie tatsächlich praktizieren, ein hohes Gut. Solche Versenkung ist aber nicht die Norm.
Wie die Psychologen Lisa und Jeffrey K. Smith herausfanden, verbringen Museumsbesucher im Schnitt 28 Sekunden vor einem Werk. In ihrer 2017 veröffentlichten Studie erklärten die beiden, dass sich diese Spanne seit 2001 kaum verändert habe – "was sich verändert hat, ist die Art und Weise, wie diese Zeit verbracht wird": 35 Prozent der Personen, die die Autoren 2016 beobachteten, knipsten Kunst-Selfies.
Darin nur grassierenden Narzissmus zu sehen, greife aber zu kurz, betonen die Autoren einer Museums-Selfie-Studie der Annenberg School of Communication ( Los Angeles): Museen seien vielmehr zu einer Bühne geworden, auf der eine bestimmte Identität dargestellt und via Social Media nach außen transportiert wird.
Ich bin Museum
Sich mit Kunst zu fotografieren, kann ein Mittel sein, auf die eigene Kultiviertheit zu verweisen; manche der von den Forschern analysierten Selfies waren Vehikel für nachdenkliche Überlegungen, andere vermittelten das Gefühl, am Reichtum des Ausgestellten teilzuhaben.
Die meisten dieser Motivationen entsprechen wohl nicht dem Ideal des reinen, selbstvergessenen Kunstgenusses. Der Umstand, dass Kunstsinnigkeit und der damit einhergehende Reichtum (geistiger, oft aber auch materieller Natur) als Statussymbol zur Schau getragen wird, ist aber nichts Neues: Von David Teniers’ berühmtem Gemälde Erzherzog Leopold Wilhelms (oben) bis hin zu aktuellen Fotos, in denen Sammler wie mit erlegtem Großwild vor Kunstwerken posieren, reicht der Kanon der Imagebildung. Kunst ist nicht nur zur Kontemplation da – jene, die damit arbeiten, wissen das nur zu gut.
Die technologischen Umstände haben nicht nur auf die Kunst Einfluss, sondern auch auf die Musik: Diese wird zunehmend über Streamingdienste konsumiert. Und diese Art des Musikgenusses prägt immer mehr die Weise, wie heute Populärmusik gemacht wird.
Musiker richten ihre Kunst nach der Vermarktung? Das klingt hart, ist aber nichts Neues. Die Art des Musikkonsums hat schon immer die Musik selbst bestimmt: Nach dem Aufkommen des Walkmans in den 1980ern etwa entstand zunehmend Kopfhörertauglicher Klang. Zuvor hatte die Aufnahmekapazität der Vinyl-Platte – eigentlich ein willkürlicher Umstand – das Format des Albums bestimmt: Rund 50 Minuten Musik, auf zwei Seiten verteilt, galt lange Zeit als Maß aller Musikdinge.
Von derartigen Kapazitätsfragen ist die Musik im Streamingdienst natürlich völlig befreit – hier geht es um anderes: Musik begegnet dem Hörer als ständiger Strom, der starke Tendenzen hat, zum Hintergrundgeräusch zu werden. Umso schneller und gezielter müssen Songs zum Punkt kommen: Einer der größten Hits des letzten Jahres, „Despacito“, startet etwa mit einer Art Zusammenfassung dessen, was folgt, um die Aufmerksamkeit des Hörers zu bekommen.
Bitte nicht stören
Diese darf aber, andererseits, auch nicht überfordert werden: Musik, die allzu sehr aus dem Strom heraussticht, ist ebenfalls nicht gefragt. Im Formatradio musste man möglichst schnell den Refrain erreichen. Im Streaming geht es darum, wie Streaming zu klingen. Insbesondere Hip-Hopper haben diese neuen Umstände internalisiert: Sieht man von Ausnahmealbem wie Kendrick Lamars „DAMN“ ab, liefern viele Rapper herummäandernde, lange Song-Playlisten mit möglichst prominenten Gaststars als „Alben“. Und hoffen so, dem Hörer keinen Grund zu geben, auf eine andere Playlist zu klicken.
Kommentare