Deshalb müssen Bäume keine Augen haben
Masturbiert hat er bereits im fünften Buch, jetzt hätte es durchaus eine Pause geben können.
Aber nein, Karl Ove Knausgård drückt sich – ganz aktuell sozusagen – im Lift an die Hinterwand, windet sich, versucht vor seinen Kindern zu verheimlichen, dass er dringendst aufs WC muss ... und beschreibt überdeutlich, was sich danach hinten abgespielt hat.
Das ist bloß so als ein unappetitliches Zwischendurch-Häppchen gedacht.
Zu wenig
Nach "Sterben" und "Lieben" und "Spielen" und "Leben" und "Träumen" bringt der Luchterhand Verlag im Mai 2017 die letzten 1200 Seiten von den – nicht immer – autobiografischen Schriften von Knausgård.
Die Übersetzung von Band sechs ist noch nicht abgeschlossen, und das hätte bedeutet, dass 2016 gar nichts von ihm erscheint.
Darf nicht sein.
Es soll noch immer Leser geben, bei denen der Zwang besteht, dabei zu sein, wenn der heute 47-Jährige lebt und liebt und träumt und sich wundert, dass er nicht immer zu den Guten gehört, sondern auch böse sein kann und große Berührungsängste hat.
Deshalb heuer die Essaysammlung "Das Amerika der Seele". Das sind gewissermaßen Outtakes, die wegen Platzproblemen nicht in den Sechsbänder passten.
Diesem Autor sind 3.600 Seiten zu wenig, um sich darzustellen.
Und da muss man u.a. seine Ausführungen über Hoden auswaggonieren (auf denen im Ultraschall ein Gesicht sichtbar wird).
Der Norweger, der im schwedischen Österlen lebt, kann in den ausgelagerten Texten seine Belesenheit zeigen. Er erzählt uns, wie sehr ihn die Fotografien Francesca Woodmans auf den zweiten Blick umwarfen und wie er die Literatur von Knut Hamsun empfindet, er schafft neue Analysen, er versucht in Breivik einzudringen, und die klugen Gedanken nimmt man gern auf.
Ohne Anstoß hätte man sich doch z.B. niemals gefragt, warum Bäume keine Augen haben.
Jetzt aber gehen die Augen auf: Die Bäume würden ja tagaus, tagein dasselbe sehen – ohne Möglichkeit, reagierend zu handeln.
Leider wiederholt er sich, etwa wenn er berichtet, dass er sich nicht gut fühlt – was man ihm eh glaubt (zumindest im Lift).
Nein, es passt eh alles. Es gibt Gefährlicheres, als nach seinen Büchern süchtig zu sein. Aber in diesem Fall bitte auch Nicholson Baker lesen: Ein Murmeltier beim Fressen einer Kleeblüte ist nicht weniger interessant.
Und Franz Schuh, immer wieder Franz Schuh.
Karl Ove Knausgård:
„Das Amerika der Seele“
Übersetzt von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg.
Luchterhand Verlag. 496 Seiten. 24,70 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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