Der zerrissene April - Von Ismail Kadare

Der zerrissene April - Von Ismail Kadare
Der Roman schildert die uralte, brutale Tradition der Blutrache im albanischen Hochland.

Der zerrissene April“ beginnt mit einem Mord, mit Blut, mit einer schicksalhaften Verquickung zweier Familien. Der 1978 erschienene Roman schildert die uralte, brutale Tradition der Blutrache im albanischen Hochland. Und er tut dies mit einer mystischen Kraft, mit einer archaischen Präsenz, die wahrlich außergewöhnlich ist. Ismail Kadare siedelt seine Geschichte in den 1930er-Jahren an und fokussiert seinen Blick auf den jungen Mann Gjorg. Seine Familie, die Barishas, liegt mit den Nachbarn Kryeqyqes in einer Generationen umspannenden Fehde – eine „ziemlich gewöhnliche Geschichte mit zweiundzwanzig Gräbern auf jeder Seite, insgesamt also vierundvierzig“. Gjorg will nicht töten, beugt sich aber der Familie und dem Kanun, jenem uralten, vorrömischen Gewohnheitsrecht der Nordalbaner. Und dessen Gesetze sind hart: Auge um Auge, Menschenleben um Menschenleben. Gjorg erschießt Zef Kryeqyqe, und das strenge Reglement des Kanun nimmt seinen Lauf. Das „große Ehrenwort“ wird ihm von der verfeindeten Familie gegeben: 30 Tage bleibt Gjorg so unbehelligt, bis die Jagd auf ihn beginnt – am 17. April, dem Monat, der auch sein Leben zerreißen wird. Gjorg wandert in dieser Zeit durch das Gebirge, zahlt Blutzoll im Turm von Orosh, spürt Regen und Kälte der Landschaft auch in seinem Innern.

Der zerrissene April - Von Ismail Kadare
Ein Königreich für ein Bild!

Dem Weg des verzweifelten Gjorg folgt man mit angehaltenem Atem. Die Beschreibungen erscheinen wie aus einem Fantasyroman und doch beschreibt Ismail Kadare ein Leben, das teilweise heute noch geführt wird. Der albanische Autor fügt einen zweiten Handlungsstrang ein: Der Schriftsteller Besian Vorpsi aus Tirana fährt mit seiner Frau durch das albanische Hochland – es ist ihre Hochzeitsreise. Vorpsi ist fasziniert von der archaischen Kraft des Kanun und wünscht sich nichts mehr, als seiner Angetrauten diese Begeisterung zu vermitteln. Ein gelungener dramaturgischer Kunstgriff: Durch die Erläuterungen für die Ehefrau lernt auch der Leser dieses urzeitliche Gewohnheitsrecht zu verstehen. Und zu fürchten – denn die Grausamkeit dieses Lebens wiegt für Diana Vorpsi schwerer als die Faszination. Auf ihrer Reise treffen sie für einen Augenblick auf Gjorg – nur einen Blick wird Diana mit ihm wechseln und doch werden ihr diese Augen, die Verzweiflung, Kraft und Hoffnungslosigkeit ausdrücken, nie mehr aus dem Sinn gehen. Besian Vorpsi und seine Frau Diana entfremden sich rasch – auch sie werden zum Opfer der brachialen Kraft des Kanun.

Ismail Kadare, 1936 geboren, ist der bekannteste Schriftsteller Albaniens. Abwechselnd wurde er als großartiger, homerischer Autor gefeiert oder als Mitläufer der Regierung Enver Hoxhas beschuldigt, der in Albanien zwischen 1945 und 1985 eine Diktatur nach stalinistischem Muster errichtete. Vorwürfe, die etwa angesichts Kadares deutlich systemkritischen Romans „Palast der Träume“ zumindest als stark übertrieben gelten können. Kadare begann als Lyriker, bis ihm 1964 mit seinem Roman „Der General der toten Armee“ der Durchbruch gelang. Nach dem Zusammenbruch des Regimes Hoxha ging er 1990 nach Frankreich, kehrte aber neun Jahre später zurück. Heute lebt er in der albanischen Hauptstadt Tirana, weiter schreibend – zuletzt erschien sein Roman „Ein folgenschwerer Abend“ im Jahr 2010. „Der zerrissene April“ ist sicherlich Kadares härtestes Buch. Und vielleicht auch das beeindruckendste und verstörendste – denn auch mehr als 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung besticht dieser eindringliche Text durch seine außergewöhnliche literarische Wucht.

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